The (not so) grand narrative that is coming to an end was given the name neoliberalism by the more discontented among us. Certainly, it was in the process of recognizing its worst stupidity and meanness; but to really change something, the will and the strength were lacking everywhere. The reason for this is not only the joint action of so-called market radicals, right-wing populists and conservatives; it also lies in the genesis of neoliberalism as a combination of a new organization of capitalism, a change in the function (not at all, as traditionalist leftists occasionally claim: disempowerment) of the state, and a specific attitude to life associated with both, between subject freedom and social Darwinism.
The informal social model of neoliberalism not only had roots in a past "counterculture" (the hippie capitalist) and not only promised young people never imagined possibilities (the start-up company as a counterpart to the garage band, which first becomes an indie rock sensation and then a music supplier for commercials), it also existed in a left-liberal variant, on the one hand because this neoliberalism had cannibalized quite a few leftist ideas, styles and methods, but on the other hand also because it held hope and seductive power in store.
There was and is, in other words, a new edition of the historical compromise that the more or less radical left once made with the bourgeoisie and capitalism, in the double hope of being able to extract some reformist concessions from the bourgeoisie and its capitalism (or rather from capitalism and its bourgeoisie) and to preserve the leftist hopes at least as a program or utopian fantasies.
> In the actually existing countries of so-called core Europe, the bourgeoisie lived in a mixture of half-hearted criticism, lack of alternatives, and clammy enjoyment.
After the collapse of the state-socialist outside, this led to the exact opposite, the transformation of the social market economy into neoliberalism. The next generation sought the next historical compromise under the sign of technological change (digitalization), de-bureaucratization and so-called free enterprise through self-optimization (privatization) and, finally, the opening of economic-cultural borders (globalization). Thus, it dreamed itself of a "green capitalism," of a new appreciation of care work, of political change through (world) trade, of decolonization and new equality in language and work. That the second historic compromise was also a fraudulent maneuver could again have been easily verified from the economic news.
In the actually existing countries of so-called core Europe, the bourgeoisie lived in a mixture of half-hearted criticism, lack of alternatives and clammy enjoyment. At the level of foreign policy, the hope for soft power seemed to take up the pacifist impulse. Economic globalization promised to make conflicts between nations obsolete-not merely transnational corporations as powerful as states, and not merely super-rich and so-called oligarchs distributing possessions and investments around the world after a period of wild accumulation, but also economic interdependencies, mutual dependencies, so-called win-win situations that made warfare seem at least unreasonable if it did not happen far away and among world market losers. Finally, at the level of management, so-called anti-authoritarian and cooperative elements seemed to be integrated, performance became more important than knowledge or skill.
Certainly, competition became tougher, but if everything was to become commodity and profit, why not ecology in a "green capitalism" that would also, well, not abolish, but perhaps mitigate child labor and exploitation. And on the level of society one offered identity, wokeness, diversity and emancipation (at least as far as the growing reaction from the right allowed it and it only affected the middle class): **I wonder if you can talk yourself into a society and a history? Who knows.** But it was evidently possible to use soft means to make the internal contradictions that were being acted out elsewhere, or else violently suppressed, invisible. And no one could say exactly where the line between compromise and corruption lay. But under its own power, it was no longer possible to emerge from under the bell of the enormous self-deception (which in Germany even took the form of a governing coalition). So what was left but a collapse for which something and someone else had to be responsible? And so for this side of the failed compromise, too, only one redemption was conceivable: the apocalypse as a signal of the turning point of time.
DE
# Der Zusammenbruch einer Welterzählung
Die (nicht ganz so) große Erzählung, die zu Ende geht, bekam von den Missmutigeren unter uns den Namen Neoliberalismus verliehen. Gewiss war man gerade dabei, seine schlimmsten Dummheiten und Gemeinheiten zu erkennen; etwas wirklich zu ändern, aber fehlten allenthalben der Willen und die Kraft. Die Ursache dafür ist nicht nur das gemeinsame Wirken von sogenannten Marktradikalen, Rechtspopulisten und Konservativen, sie liegt auch in der Genesis des Neoliberalismus als Ineinander von neuer Organisation des Kapitalismus, Funktionswandel (keineswegs, wie traditionalistische Linke gelegentlich behaupten: Entmachtung) des Staats und einem mit beidem verbundenem, spezifischen Lebensgefühl zwischen Subjektfreiheit und Sozialdarwinismus. Das informelle Gesellschaftsmodell des Neoliberalismus hatte nicht nur Wurzeln in einer vergangenen »Gegenkultur« (der Hippie-Kapitalist) und versprach nicht nur jungen Leuten nie geahnte Möglichkeiten (das Start-up-Unternehmen als Pendant zur Garagenband, die erst zur Indierock-Sensation und dann zum Musiklieferanten für Werbespots wird), sie existierte auch in einer linksliberalen Variante, einerseits, weil dieser Neoliberalismus etliches an linken Ideen, Stilen und Methoden kannibalisiert hatte, andrerseits aber auch, weil er Hoffnungen und Verführungskraft parat hielt. Es gab und gibt, mit anderen Worten, eine Neuauflage jenes historischen Kompromisses, den die mehr oder weniger radikale Linke einst mit Bürgertum und Kapitalismus schloss, in der doppelten Hoffnung, dem Bürgertum und seinem Kapitalismus (oder eher dem Kapitalismus und seinem Bürgertum) einige reformerische Zugeständnisse abringen und die linken Hoffnungen wenigstens als Programm oder utopische Phantasien bewahren zu können.
> In den real existierenden Ländern des sogenannten Kerneuropa lebte es sich bürgerlich in einer Mischung aus halbherziger Kritik, Alternativlosigkeit und klammheimlichem Genuss.
Das führte nach dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Draußen zum genauen Gegenteil, zur Transformation der sozialen Marktwirtschaft in den Neoliberalismus. Die nächste Generation suchte den nächsten historischen Kompromiss im Zeichen des technologischen Wandels (Digitalisierung), der Entbürokratisierung und des sogenannten freien Unternehmens durch Selbstoptimierung (Privatisierung) und schließlich der ökonomisch-kulturellen Grenzöffnungen (Globalisierung). So träumte es sich von einem »grünen Kapitalismus«, von einer neuen Wertschätzung von Care-Arbeit, vom politischen Wandel durch den (Welt-)Handel, von Entkolonialisierung und neuer Gleichberechtigung in Sprache und Arbeit. Dass auch der zweite historische Kompromiss ein Betrugsmanöver war, hätte man wiederum leicht anhand der Wirtschaftsnachrichten überprüfen können.
In den real existierenden Ländern des sogenannten Kerneuropa lebte es sich bürgerlich in einer Mischung aus halbherziger Kritik, Alternativlosigkeit und klammheimlichem Genuss. Auf der Ebene der Außenpolitik schien die Hoffnung auf soft power den pazifistischen Impuls aufzunehmen. Die ökonomische Globalisierung versprach Konflikte zwischen Nationen obsolet zu machen – nicht bloß transnationale Konzerne, die so mächtig wie Staaten sind, und nicht nur Superreiche und sogenannte Oligarchen, die nach einer Phase der wilden Akkumulation auf der ganzen Welt Besitztümer und Investitionen verteilen, sondern auch ökonomische Verflechtungen, gegenseitige Abhängigkeiten, sogenannte Win-win-Situationen, die das Kriegführen mindestens unvernünftig erscheinen ließen, wenn es nicht weit weg und bei Weltmarktverlierern geschieht. Auf der Ebene des Managements schließlich schienen sogenannte antiautoritäre und kooperative Elemente integriert, Performance wurde wichtiger als Wissen oder Können.
Gewiss, der Konkurrenzkampf wurde härter, aber wenn eben wirklich alles zu Ware und Profit werden sollte, warum dann nicht auch Ökologie in einem »grünen Kapitalismus«, der nebenbei auch noch Kinderarbeit und Ausbeutung, naja, nicht abschaffen, aber vielleicht doch abmildern würde. Und auf der Ebene der Gesellschaft bot man Identität, Wokeness, Diversität und Emanzipation (jedenfalls soweit es die wachsende Reaktion von rechts zuließ und es nur die Mittelschicht betraf): Ob man sich wohl eine Gesellschaft und eine Geschichte schönreden kann? Wer weiß. Aber es gelang offenbar, die inneren Widersprüche, die anderswo ausgetragen oder aber gewaltsam unterdrückt wurden, mit soften Mitteln unsichtbar werden zu lassen. Und niemand konnte genau sagen, wo die Grenze zwischen Kompromiss und Korruption lag. Aber aus eigener Kraft war unter der Glocke des gewaltigen Selbstbetrugs (der in Deutschland sogar die Form einer Regierungskoalition angenommen hat), nicht mehr hervorzukommen. Was also blieb übrig als ein Zusammenbruch, für den irgendetwas und irgendjemand anderes verantwortlich sein musste? Und so war auch für diese Seite des gescheiterten Kompromisses nur eine Erlösung denkbar: die Apokalypse als Signal der Zeitenwende.
SEESSLEN, Georg, 2022. Die Flucht in den Mythos. Jungle World 13. 31 März 2022. S. 3–4