FUCHS, Peter, 2010. Das System SELBST: eine Studie zur Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: „Ich liebe Dich!“? Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. ISBN 978-3-938808-79-5
S. 67
> Das heißt zunächst, daß das psychische System so wenig ›Sprache‹ ist wie Kommunikation: Handlung. Es ist, wenn man eine griffige Formel benutzen will, die Organisation ›sinndurchtränkter‹ Wahrnehmungen29, und es gründet sich auf eine Operativität, die gerade nicht ›Sprechen‹ ist.30
29 Jedenfalls, wenn man von Menschen spricht. Tiere verfügen ebenfalls über ein psychisches System, aber höchstens rudimentär über die Sinnform.
30 Sondern eher ein ›Zählen‹. »Es ist nicht wahr, daß Denken eine Art Sprechen ist, wie ich einmal sagte. Der Begriff ›denken‹ ist vom Begriff ›sprechen‹ kategorisch verschieden. Aber natürlich ist das Denken keine Begleitung des Sprechens, noch sonst irgendeines Vorganges. Das heißt: man kann z. B. den ›Denkvorgang‹ nicht unbegleitet vor sich gehen lassen. Er hat auch nicht Abschnitte, die den Abschnitten der anderen Tätigkeit (des Redens z. B.) entsprechen. D. h.: wenn man von einem ›Denkvorgang redet, so ist er so etwas wie das Operieren (schriftlich oder mündlich) mit Zeichen. Das Schließen und Rechnen könnte man einen ›Denkvorgang‹ nennen.«, formuliert Wittgenstein, L., Werkausgabe, Bd.7, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1989, S. 221. Aber schon Klages, L., Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn 1981, S. 842 sagt: »... Bewußtsein ist potentiell zählendes Bewußtsein.« Vgl. auch Baecker, D., Rechnen lernen, in ders., Wozu Soziologie?, Berlin 2004, S.293-330.
EN
30 But rather a 'counting'. "It is not true that thinking is a kind of speaking, as I once said. The term 'thinking' is categorically different from the term 'speaking'. But of course thinking is not an accompaniment of speaking, nor of any other process. That means: one cannot let, for example, the 'thinking process' go on unaccompanied. It also does not have sections corresponding to the sections of the other activity (e.g. speaking). I.e.: if one speaks of a 'thinking process', it is something like operating (in writing or orally) with signs. One could call reasoning and calculating a 'thinking process'", Wittgenstein, L., Werkausgabe, Vol.7, 4th edition, Frankfurt a. M. 1989, p. 221. But already Klages, L., Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn 1981, p. 842 says: "... Consciousness is potentially counting consciousness." Cf. also Baecker, D., Rechnen lernen, in ders, Wozu Soziologie?, Berlin 2004, pp.293-330.
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BAECKER, Dirk (Hrsg.), 2016. Schlüsselwerke der Systemtheorie. 2., erweiterte und neu gestaltete Auflage. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-20003-3
VOGD, Werner, 2016. Das Selbst als Phantasma. In: Dirk BAECKER (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie [online]. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. S. 171–179. [Zugriff am: 7 April 2022]. ISBN 978-3-531-20003-3. Verfügbar unter: http://link.springer.com/10.1007/978-3-531-20004-0_14
**S. 173**. Fuchs kommt zu dem Ergebnis, dass das System SELBST eine besondere Form der „Organisation ‚sinndurchtränkter‘ Wahrnehmungen“ darstellt (S. 67), die darauf beruht, dass das „Medium Sprache“ narrativ „supercodiert“ wird (S. 70), sich hierbei also soziolinguistische und neurophänomenologische Perspektiven in besonderer Weise verschränken. Wir haben es dabei mit einem zweistufigen Prozess der konditionierten Koproduktion zu tun, als dessen Folge das SELBST als Handelnder und Erlebender wieder in sich selbst eintritt. Zunächst erscheint dabei das „psychische System“ per se immer schon als „soziale Interpretation von Hirnleistungen“ (S. 81). Im Sinne von Maturana und Varela (1987) stellt es nämlich nicht anderes dar, als das Ergebnis einer schon immer dem Erleben vorgelagerten sozialen Koordination von Wahrnehmungen und Verhalten. Auf diesen Prozessen reitet wiederum die ‚Erzählung‘ als eine besondere Form der Koordination.
Die Erzählung verzahnt rekursiv, gleichsam als ein Hypertext, Wahrnehmungen und Texte: „Narrative“ liefern „je historisch konditionierte Muster für die Interpretierbarkeit von Wahrnehmungszusammenhängen als Erlebnisse. A fortiori: Narrative stiften die (erzählbaren) Zusammenhänge etwa in der Weise, in der ein Film zum Film wird durch die Belichtung und die nachgetragene ‚Entwicklung‘. […] Die Idee ist, auf den Punkt gebracht, das Selbsterzählungen im Blick auf die Disparatheit dessen, womit ein psychisches System im Laufe seiner Existenz konfrontiert wird, die Funktion der Integration ausüben“ (S.81).
EN
Fuchs comes to the conclusion that the SELF system represents a special form of "organization of 'sense-soaked' perceptions" (p. 67), which is based on the fact that the "medium of language" is narratively "supercoded" (p. 70), i.e. sociolinguistic and neurophenomenological perspectives intertwine in a special way here. We are dealing with a two-stage process of conditioned co-production, as a consequence of which the SELF re-enters itself as a doer and experiencer. First, the "mental system" per se always appears as a "social interpretation of brain performance" (p. 81). In the sense of Maturana and Varela (1987), it represents nothing else than the result of a social coordination of perceptions and behavior that has always preceded experience. In turn, 'narrative' rides on these processes as a particular form of coordination.
The narrative recursively interlocks, as it were as a hypertext, perceptions and texts: "Narratives" provide "each historically conditioned patterns for the interpretability of perceptual contexts as experiences. A fortiori: Narratives create (narratable) contexts in the way a film becomes a film through exposure and the subsequent 'development'. [...] The idea, in a nutshell, is that self-narratives perform the function of integration in view of the disparity of what a mental system is confronted with in the course of its existence" (p.81).