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question
Hannah Arendts These: Das Böse ist nicht „radikal“, sondern „banal“ – es hat „keine Tiefe, auch keine Dämonie“, es „wuchert wie ein Pilz an der Oberfläche“, während nur das Gute wirklich tief und radikal ist. Beim Versuch, das Böse denkend zu „erfassen“, stösst das Denken daher ins Leere: man findet keine metaphysische Wurzel, sondern Gedankenlosigkeit, Routine und Oberflächenprozesse.
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Arendts eigene Revision des „radikal Bösen“ ist ausdrücklich und textlich klar: Im Brief an Gershom Scholem (1963) schreibt sie „I changed my mind“ und formuliert dann, dass das Böse „niemals radikal“ sei, „keine Tiefe, auch keine Dämonie“ habe und „wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert“. Diese Stelle ist nicht beiläufig, sondern markiert programmatisch einen Theoriewechsel nach *Eichmann in Jerusalem*; sie ist damit eine starke innere Stütze für die These, das Böse als Tieflosigkeit zu verstehen. Die Prozessbeobachtung in *Eichmann in Jerusalem* liefert ein paradigmatisches Beispiel für diese Tieflosigkeit: Arendt betont immer wieder Eichmanns „schiere Gedankenlosigkeit“ und die Unmöglichkeit, ihm „teuflisch-dämonische Tiefe“ abzugewinnen. Die Struktur des Bösen erscheint hier als Funktionsweise eines Apparats, der auf Routine, Karrierismus und Floskelhaftigkeit beruht, nicht auf einem „tiefen“, reflektierten Willen zum Bösen; das stützt die Idee, dass eine Suche nach „innerer Tiefe“ beim Bösen systematisch ins Leere geht.
Philosophisch schliesst Arendt mit dieser Verschiebung an eine kantische Linie an, in der das Böse primär als Defekt des praktischen Vernunftgebrauchs und des Urteilens erscheint, nicht als metaphysischer Gegenpol des Guten. Indem sie die Tiefe und Radikalität ausschließlich dem Guten zuschreibt, verhindert sie eine Aufwertung des Bösen zu einer „negativen metaphysischen Größe“ und hält moralische und politische Analyse in der Sphäre menschlicher Praxis: der Frage, wie Menschen (nicht) denken, urteilen und handeln. Dadurch wird auch die Rede von der „Banalität des Bösen“ vor Missverständnissen geschützt, die darin eine Verharmlosung statt eine Strukturdiagnose sehen.
oppose
Die starke Entleerung des Bösen – „keine Tiefe, keine Dämonie“ – droht Erfahrungsdimensionen zu unterschätzen, in denen Täter gerade nicht nur gedankenlos, sondern mit Begeisterung, Ressentiment oder sadistischem Vergnügen handeln. Spätere Forschungen (z.B. zu Tätermotiven, Ideologieverinnerlichung, Hasskulturen) deuten darauf hin, dass es Fälle gibt, in denen psychische und ideologische „Tiefe“ sehr wohl eine Rolle spielt; Arendts Modell könnte hier zu glatt an der Oberfläche bleiben. Indem Arendt Tiefe und Radikalität ausschließlich beim Guten ansiedelt, nimmt sie dem Bösen zwar die metaphysische Faszination, riskiert aber, seine reale Anziehungskraft zu unterschätzen. Historisch zeigen sich immer wieder Konstellationen, in denen Menschen gerade von „dunklen“, destruktiven Visionen fasziniert sind, diese als Sinnquelle erleben und ihnen biographische Tiefe verleihen. Die Formel vom „Pilz an der Oberfläche“ könnte diese subjektiv erfahrene Tiefe moralisch delegitimieren, ohne sie hinreichend zu erklären – und damit auch pädagogisch-politische Lernchancen verschenken. Die These, dass das Böse beim Versuch des Denkens ins Nichts führt, könnte selbst performativ problematisch sein: Wenn wir das Böse vor allem als Nichtigkeit und Gedankenlosigkeit konzipieren, besteht die Gefahr, komplexe Verflechtungen aus Ideologie, Institution, Affekt und Interesse zu simplifyen. Damit liefe man Gefahr, das Böse zwar weniger „dämonisch“, aber auch weniger verstehbar zu machen – und damit gerade die Art von historischer und soziologischer Erklärung zu behindern, die nötig wäre, um Wiederholungen zu verhindern.