Laut Bruno Latour dachten wir in der modernen Welt, die Welt bestünde aus Objekten, die den Wissenschaften bekannt seien, deren Gesetzen wir gehorchten. Durch die jüngsten Klima- und Gesundheitskrisen würden wir gezwungen, uns wieder als Lebewesen inmitten anderer Lebewesen zu sehen. arte
Nicolas Truong (NT): Sie sind Anthropologe und Soziologe der Wissenschaft und Technik. Aber vor allem sind Sie Philosoph, aus tiefstem Herzen. Zwei Ihrer Bücher widmen sich der Ökologie und stellen Fragen: "Das terrestrische Manifest" von 2017 und "Wo bin ich?" von 2021. Damit wurden Sie berühmt. Sie sagen, die Welt habe sich verändert, wir würden nicht mehr auf der alten Erde leben. Warum hat sich die Welt verändert? Warum leben wir nicht mehr auf derselben Erde?
HTML5 mp4 https://wiki.ralfbarkow.ch/assets/pages/eine-neue-weltordnung/eine-neue-weltordnung.mp4 Nous avons changé de monde
Bruno Latour (BL): Das liegt an der Dramatisierung der Situation. Die aktuelle politische und ökologische Situation ist für alle extrem schwierig. Wir alle sind von den Veränderungen betroffen, von denen wir täglich in den Nachrichten hören: Die Klimaveränderung, die vielen internationalen Treffen, um die Artenvielfalt zu retten. Da wird gefragt: Was ist Fortschritt, was ist Überfluss? All diese Fragen beziehen sich auf eine Welt, in der wir bisher lebten. Das ist uns allen irgendwie klar. Das war eine Welt, die auf dem Prinzip beruhte, dass Dinge im Grunde genommen keine ... ... keine Handlungsfähigkeit besitzen. Der englische Begriff dafür ist "agency".
Für diese frühere Welt gibt es ein typisches Beispiel, nämlich Galileo Galilei und seine schiefe Ebene. Mit dieser Ebene und den Kugeln machte er seine Experimente und entdeckte dadurch seine genialen Fallgesetze. Wir waren daran gewöhnt, dass die Welt derart gestaltet ist. Mit Dingen ohne Handlungsfähigkeit. Eine Billardkugel besitzt keine Identität. Sie gehorcht Gesetzen, die berechenbar sind. Die von der Wissenschaft entdeckt wurden. Alle dachten, diese Dinge machten die Welt aus. Das hat auch etwas mit Metaphysik zu tun. Die Welt besteht aus dieser Art von Objekten. Und nicht aus lebendigen Dingen, wie die subjektive Sicht der Menschen auf die Welt oder ihren Vorstellungen von schönen Dingen. Daraus ist die Welt nicht gemacht.
Der britische Philosoph Alfred North Whitehead nannte das die Entsubjektivierung der Natur. Ab einem gewissen Zeitpunkt, sagen wir, dem 17. Jahrhundert, sah man die Natur anders. Die Welt bestand aus wissenschaftlich belegten Dingen, welche der Laie nicht verstand. Alles, was wir Menschen fühlten und empfanden, war vielleicht interessant, aber für das Weltverständnis unerheblich. Das war die vorherrschende Vorstellung von der Welt, die Definition einer früheren Welt, die ich, vereinfacht gesagt, als "Moderne" bezeichne. Ich habe mich viel mit der Anthropologie der Moderne befasst.
Heute sieht die Lage jedoch anders aus. Dafür gibt es klare und offensichtliche Anzeichen, wie Covid-19 oder den Klimawandel. Es scheint nun, als sei die Welt von Lebendigem bestimmt. Und wir erfahren zunehmend, dank der Naturwissenschaften, der Analyse von Lebewesen, der Artenvielfalt und so weiter, dass die Welt, die uns umgibt, die Welt der Lebewesen, dass diese Welt die metaphysische Grundlage ist für unsere momentane Welt.
Daraus resultiert unsere derzeitige Orientierungslosigkeit, was die Umweltfragen betrifft. Diese Unfähigkeit, auf eine Situation zu reagieren, die alle als katastrophal empfinden. Denn die meisten leben weiterhin in dieser alten Welt, in der Objekte nicht handlungsfähig sind und durch wissenschaftliche Erkenntnisse kontrolliert werden. Und die von einem Produktionssystem vereinnahmt werden, welches uns Überfluss und Komfort und so weiter bringt. Doch so sieht die Welt heute nicht mehr aus. Diese neue Welt, in der wir endlich ankommen müssen. Das ist fast eine Welt der Viren. Viren und Bakterien sind nun die Hauptakteure. Sie haben die Welt verändert, haben sie bewohnbar gemacht. Sie haben auch die Atmosphäre geschaffen, in der wir uns wohlfühlen, in der es Sauerstoff gibt, um zu atmen. Auch das alles hat seinen Ursprung in den Viren und Bakterien. Dadurch ändert sich zwangsläufig der Aufbau unserer Welt. Wir leben in einer lebendigen Welt, in der sich alles weiterentwickelt. Man weiß gar nicht, ob Viren überhaupt leben. Man weiß immer noch nicht, wie und warum sie sich bilden, ob sie unsere Freunde oder Feinde sind. Dabei sind wir voller Viren - zum Glück! Denn wir brauchen sie. Aber das ist eine andere Welt, im praktischen Sinn. Und das heißt ... Ich übertreibe jetzt, aber das ist meine Aufgabe, zu sagen: "Passt auf, die Situation hat sich verändert." Wenn ich das sage, gibt es auf jeden Fall Leute, die automatisch sagen werden: "Die Welt besteht aus Objekten, die von der Wissenschaft definiert wurden. Sie hat unsere Vorstellung von diesen Objekten geprägt." Das ist die Welt, die wir hinter uns lassen.
Doch die neue Welt teilen wir mit Wesen, die seltsame Dinge tun und schnell auf uns reagieren. Das passiert im Kleinen, wenn ein Virus die Menschen angreift. Aber auch im Großen, denn es sind Viren und Bakterien, die um die Erde im Lauf der Zeit diese Hülle aufgebaut haben und sie dadurch für uns bewohnbar machten. Das ist eine völlig andere Situation. Früher konnten wir relativ ruhig leben. In einer Welt mit bekannten Objekten, die unseren Gesetzen folgen. Aber heute müssen wir uns fragen: "Was macht dieses Virus? Wie wird es sich verbreiten?"
NT: Sie sagen oft, wir erlebten eine Revolution, die mit der galileischen Revolution vergleichbar sei. Unsere Welt habe sich verändert, und das müsse zu einer Änderung der Vorstellung führen, die wir uns von der Kosmologie der Moderne machen.
BL: Ja, wenn man unter Kosmologie das versteht, was sich die Anthropologen darunter vorstellen: Welche Kräfte bewirken etwas? Was sind Götter? Was hat "agency" und was nicht? Und so weiter. Die Moderne hat ihre eigene Kosmologie. Sie setzte sich weltweit immer mehr durch und zeichnete sich dadurch aus, dass sie auf Teilung beruht, auf Trennung. Auf der einen Seite das Objekt, wie Philippe Descola sagt. Und auf der anderen das Subjekt, das eher isoliert ist. Angesichts des Virus und des Klimas kann keiner mehr behaupten, dass wir, als Subjekte, keinen Einfluss auf die Welt hätten, in der wir leben. Denn eine Rückkopplungsschleife hat dazu geführt, dass die Taten der Menschen hier für andere Menschen wie auch für sich selbst zu Lebensbedingungen geführt haben, die, wie im Falle des Klimas, die Erde unbewohnbar machen, ein für alle Mal. Wir haben keine Kosmologie mehr, in der die Subjekte in einer eigenen, isolierten Welt leben können, wie es bei früheren Kulturen der Fall war. In der sogenannten modernen Welt ist das nicht mehr möglich. Das führt uns natürlich automatisch zu der Frage: Was ist ein Subjekt? Wie lässt sich das philosophisch definieren? Was ist das menschliche Subjekt in Bezug auf die Ökologie? Es ist nicht mehr das Gleiche wie früher, hat nicht die gleichen Handlungsmöglichkeiten. Es hat nicht mehr das gleiche Vertrauen in die Objekte. Das Subjekt ist nun von allen möglichen Kräften umgeben, die es ständig und überall beeinflussen. Und das Erstaunliche daran ist: Das gilt auf der Mikroebene, wie man am Beispiel Virus und der medizinischen Frage sieht. Aber es gilt auch auf globaler Ebene.
Ich muss das noch einmal betonen: Wir müssen die Erde neu interpretieren, das ist eine zweite wissenschaftliche Revolution. Die Lebensbedingungen, die wir hier vorfinden, ob das nun Klima, Ernährung oder Temperatur betrifft, sind alle das Produkt, wenn auch ein ungewolltes, von uns Lebewesen. Deshalb interessiert man sich jetzt für das Lebendige. Man übertreibt es schon fast, redet von Pilzen, Flechten, Mikroben. Das ist ein sehr wichtiges Symptom. Jeder sagt sich allmählich: "Wir sind nicht mehr in der Welt der Objekte." Dort waren wir etwas Separates, jetzt sind wir inmitten von Wesen, die sich mit uns überschneiden. Das trifft auf das Virus zu, ist aber auch auf politischer Ebene interessant. Denn unsere eigene Existenz interagiert mit all den anderen und beeinflusst sie. In der Welt der Objekte können Sie diese stapeln, ohne dass dabei irgendein Austausch stattfindet. Man kann damit sehr viel tun, und in der modernen Welt haben wir Tolles gemacht. Aber wenn Sie sich mit anderen Wesen überlagern, die Freunde oder auch Feinde sein können, dann müssen Sie sich damit irgendwie arrangieren. Denn sie sind es, die unsere Lebensbedingungen schaffen.
Das ist eine andere Welt, und ich sehe Parallelen zu den Entwicklungen in der Zeit von 1610, was ja dank Galilei ein Wendepunkt unserer Geschichte war, bis in die 1940er-Jahre. Das war eine allmähliche Veränderung unserer Gefühle und Hoffnungen, aber auch unserer Lebensweise und unserer moralischen Grundsätze. Auch unser Handeln änderte sich, wurde subjektiver. Das haben wir selbst bewirkt, und das beruhigt mich! Denn wenn wir zu dieser enormen Verwandlung fähig waren, die zur Revolution der Wissenschaft und zur modernen Welt führte, dann können wir das jetzt wieder tun. Wir haben es einmal geschafft, warum jetzt nicht erneut? Aber es ist Arbeit!
NT: Sie schreiben, die Menschen hätten erkannt, dass die Welt sich verändert hat. Dass sie jetzt auf einer anderen Erde leben. Der Historiker Paul Veyne hat das sehr schön gesagt: Große Umwälzungen sind manchmal so einfach wie die Bewegung eines Schläfers, der sich in seinem Bett umdreht.
BL: Ein schöner Vergleich. Würde man alle Probleme auflisten, die wir lösen müssen, um in einer ökologischen anstatt einer modernen Welt zu leben, dann könnte einem schwindlig werden. Große Veränderungen wären nötig, nicht nur in der Energieversorgung oder bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Sondern auch bei moralischen Fragen und der Definition des Subjekts. Oder der Definition von Eigentum. Die Veränderung scheint so riesig, dass man meint, es nicht zu schaffen. Deshalb sagen ja auch viele, man könne nichts machen. Es gibt genügend Skeptiker, zum Teil von Lobbys bezahlt. Trotzdem setzt sich mittlerweile ein neuer Zeitgeist durch. Man spürt, dass sich die Welt verändert hat.
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00:12:22.760 --> 00:12:24.760 line:83% align:left Übersetzung und Untertitel: Regina Strübe und Dagmar Klotz 00:12:24.960 --> 00:12:26.960 line:83% align:left Redaktion ARTE G.E.I.E.: Yvonne von Zeidler Nori 00:12:27.160 --> 00:12:29.080 line:83% align:left Deutsche Bearbeitung: H.D. Tonstudio GbR
=> WebVTT
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Der französische Philosoph Bruno Latour hat ein Dutzend grundlegender Werke geschrieben, die mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet wurden. Im Laufe seiner Karriere hat Latour lange Interviews gemieden. Ende Oktober 2021 bat er Nicolas Truong, Journalist bei der Tageszeitung Le Monde, mit ihm seine 50-jährige Forschungsarbeit Revue passieren zu lassen. Er verstarb am 09. Oktober 2022. arte , page