Laut Bruno Latour ist die Philosophie bescheidene, aber unverzichtbare Praxis: Sie muss Mittel und Wege finden, Existenzweisen zusammenzuhalten, die unterschiedliche Vorstellungen von der Wahrheit haben. Was kann die Philosophie tun, damit Politik, Religion, Wissenschaft, Fiktion und andere Existenzweisen sich gegenseitig respektieren und nicht zerstören?
Nicolas Truong (NT): Auf die Frage "Was ist Soziologie?" antworten Sie: Es ist nicht die Wissenschaft des Sozialen, sondern die Wissenschaft der Assoziationen. Wie beantworten Sie die Frage: "Was ist Philosophie?"
Gilles Deleuze und Félix Guattari versuchten, das zu beantworten. Am Ende ihrer Zusammenarbeit. Am Anfang ihres gemeinsamen Buches schreiben sie: "Vielleicht lässt sich diese Frage erst spät stellen. Wenn das Alter kommt und die Stunde, um konkret zu werden. Früher waren wir nicht nüchtern genug. Wir wollten Philosophie machen, nicht analysieren. Höchstens in Stilübungen. Wir hatten den Punkt noch nicht erreicht, um zu fragen: Was habe ich mein Leben lang gemacht?"
Was haben Sie Ihr Leben lang getan, und was ist Philosophie?
HTML5 mp4 https://wiki.ralfbarkow.ch/assets/pages/philosophie-ist-so-schn/philosophie-ist-so-schn.mp4 "C'est tellement beau, la philosophie !"
Bruno Latour (BL): Das ist ein sehr bedeutendes Buch. Ein schönes Buch, denn es beschreibt auch verschiedene Wissenschaftsweisen. Und es beschäftigt sich außerdem mit der Fiktion. Auch dort finden wir wieder diesen erstaunlichen Aspekt: Dinge sind wahr, doch nur in gewisser Weise. Wir erkennen an: Es ist wahr, in fiktiver Hinsicht. Die Fiktion ist eine sehr starke Existenz- und Wahrheitsweise.
NT: Was ist wahr in der Fiktion? Oder in der Literatur?
BL: Nehmen wir Lucien de Rubempré. Er existiert genauso wie dieser Tisch.
NT: Diese Figur von Balzac existiert?
BL: Ja, sie hält sich wacker. Sie hat eine starke Existenz. Es gibt einen Philosophen, den Deleuze gerne gelesen und oft zitiert hat. Das ist Etienne Souriau. Er hat das wunderbar ausgedrückt. Er sagt, die Figuren der Fiktion haben ihre eigene Existenzweise.
Wir können also sagen: De Rubempré existiert. Aber auf welche Art und Weise? Was ist seine Ontologie? Denn alle diese Existenzweisen haben eine Besonderheit. Da betreiben wir kurz spekulative Philosophie: Sie werden durch andere Existenzen aufrechterhalten.
Die Philosophie hat sich immer mit dem "Sein-als-Sein" befasst. Das Sein durchlebt den Fluss der Existenz. Doch darüber steht noch etwas. Etwas Unveränderliches. Das gilt in der Religion, in der Philosophie und auch in der Wissenschaft. Vergängliches wird an Gesetzen der Natur festgemacht, die unvergänglich sind.
In der Moderne war man davon besessen, die Existenz an etwas festzumachen, das dauerhafter ist als die Existenz selbst. Aber die Kosmologie hat sich verändert. Die Welt besteht nicht nur aus Lebewesen, sondern auch aus Dingen, die bleiben, durch das, was nicht dauerhaft ist. Ich persönlich nenne das … sozusagen als Gegenposition zum "Sein-als-Sein", das "Sein-als-Anderes". Um im Sein verharren zu können, müssen die Seienden sich durchdringen.
Ein ganz banales Beispiel: Ich habe gefrühstückt, bevor ich zu Ihnen kam. Ich verschlinge ständig anderes, um bis zum Ende zu existieren. Und das gilt für alle Seienden. Die verschiedenen Formen des Seins können nur bestehen, wenn sie sich gegenseitig durchdringen.
Die Philosophie oder das Verständnis der Welt darf also nicht auf dem Nicht-Dauerhaften begründet werden. Denn alles Dauerhafte gründet auf Nicht-Dauerhaftem. Das am Rande.
Doch kommen wir auf die Existenzweisen zurück. Man kann in ihnen die jeweilige Art der Alterität erkennen. Bei der Fiktion stellt sich auch die Frage: Funktioniert das? Oder eher: Hält es stand?
Als Balzac die Figur des Lucien de Rubempré erfand, fragte er sich ständig, ob diese standhalten würde. Denn dieses Wesen, dieses Sein, entsteht allein auf dem Papier. Das Papier bringt etwas hervor. Nach vielen Tassen Kaffee, Koteletts und 75 Austern schuf Balzac ein Wesen, das standhält. Es hält stand, wenn wir es aufrechterhalten. Und das tun wir, wenn wir Balzacs Buch über de Rubempré lesen. Wenn wir Balzac nicht mehr lesen, verschwindet auch de Rubempré.
Wir haben es hier mit einem ganz eigenen "Sein" zu tun. Es entstand auf dem Papier, doch es ist sehr standhaft und glaubhaft. Wer das Buch von Balzac liest, ist von dieser Figur ergriffen. Trotzdem ist diese vollständig abhängig von jenen, wie Souriau so schön sagt, die sie "auf ihren Schultern tragen". So wie die Gallier auf ihren Schutzschildern getragen wurden. Eine nette Metapher. Doch hält man ihn nicht mehr, fällt de Rubempré aus dem Lehrplan und verschwindet.
Das ist erneut eine Frage des Konstruktivismus. Es sind Formen des Seins, von anderen Formen konstruiert, aber trotzdem wahr. Und jedes Mal wird "konstruiert" anders definiert. Ist es gut konstruiert? Funktioniert es, ja oder nein? Die Fiktion hat dafür ihre eigene Definition. Wir beurteilen Theaterstücke oder Kinofilme ja auch danach, ob sie "standhalten" oder nicht. Das gilt auch für die Aufnahmen zu dieser Sendung. Das ist ein äußerst starkes Wahrheitsprinzip. Was nicht standhält, ist misslungen. Dann waren alle Ausgaben umsonst. Wenn das der Produzent hört …
Jedes Mal, wenn wir uns fragen, wie diese Alterität aussehen soll, hat man das Problem des Konstruktivismus. Die Alteritäten sind nie gleich, die Fiktion ruht nicht. Keinem würde es einfallen, zu sagen: Ich werde jetzt nachforschen, ob Lucien de Rubempré tatsächlich an besagtem Ort geboren ist. Wissenschaftlich gesehen ist es nicht korrekt. Denn Wissenschaft ist nur eine Art, Wahrheit zu produzieren. Neben der Fiktion und deren Art von Wahrheit. Und neben der Politik, der Religion oder der Technik.
Die grundlegende Frage ist die, welche Sie mir stellten: "Was ist Philosophie?" Darauf würde ich antworten, in Anlehnung an Ihr schönes Zitat von vorhin, "Im Alter, am Ende meiner Karriere", würde ich sagen: Philosophie ist keine Metasprache. Sie definiert nicht das "Sein-als-Sein", sie definiert nicht das Fundament, nicht den Unterbau, sie definiert nicht, woraus die anderen bestehen, usw. Sie ist eine bescheidene Praxis, die ebenfalls von beschriebenem Papier abhängt. Doch die Philosophie ist unerlässlich. Ich weiß noch, wie ich im ersten Kurs des Abschlusssemesters sagte: Ich bin Philosoph, die Philosophie hat mich gepackt. Das hatte sie wirklich. Die Vorstellung, keine Philosophie mehr zu betreiben, wäre für mich unerträglich. Meiner Meinung nach besteht ihre Aufgabe darin, Mittel zu finden, auf operationelle Weise, denn ich bin empirischer Philosoph, damit die Existenzweisen nebeneinander bestehen können. Sie muss den Moment erkennen, in dem diese versuchen, sich gegenseitig aufzufressen.
Das nenne ich "Kategoriefehler". Sie sind zahllos, und es ist wichtig, sie aufzudecken. Der Wissenschaftler, der sagt: "Ich trage einen weißen Kittel, was ich sage, ist wissenschaftlich", das ist ein Kategoriefehler. Denn er berücksichtigt weder das Labor, noch die Kollegen. Er hat nicht das passende Dispositiv gefunden, das es ihm ermöglicht, die Dinge sprechen zu lassen, in deren Namen er spricht. Auch das ist ein Kategoriefehler.
Das ist für mich Philosophie. Sie ist immer empirisch und immer kollektiv. Wir müssen gemeinsam herausfinden, wie die verschiedenen Existenzweisen erhalten werden können. Wie sie sich respektieren können, ohne sich gegenseitig zu zerfleischen. Das ist sehr wichtig für das Verhältnis zwischen Politik, Religion und Wissenschaft. Ohne Unterscheidungskriterium, das verhindert, dass sich die Existenzweisen in die Quere kommen, ist das schwierig. Und es muss empirisch untersucht werden.
Ohne die Philosophie, und das gilt heute ganz besonders, werden die Existenzweisen versuchen, sich gegenseitig aufzufressen. Das bedeutet nicht, dass die Philosophie urteilt. Sie versucht, durch kleine, subtile Prozesse die Kategoriefehler aufzuspüren. Sie fragt: Moment, ist das, was Sie sagen, politisch wahr? Antwort: "Politik ist nie wahr. Ich sage, was ich will. Hauptsache, ich gewinne." Nein! Die politische Wahrheit muss man respektieren.
Auch die Wissenschaftler glauben, sie könnten sich alles erlauben. Nein. Das geht nicht. Da kommen wir fast schon zur Kritik. Zur Kritik im Sinne von Kant. Da gibt es Zusammenhänge, mit dem Unterschied, dass Kant ein Friedensrichter ist, der die Lösung findet. Das halte ich heute für unmöglich. Wie ich schon sagte, kann sich die Philosophie nur herantasten. Wir brauchen, das ist vielleicht eine Marotte von mir, oder auch ein Beitrag, aber wir brauchen das kollektive empirische Dispositiv, das uns hilft, die Vielfalt der Existenzweisen zu bewahren.
NT: Die Philosophie ist also nicht die Hüterin der Tempel, sondern die Hüterin der Pluralität der Existenzweisen?
BL: Ja, und man kann hier tatsächlich einen Ausdruck von Heidegger verwenden, in einer ganz anderen Bedeutung. Er spricht vom Menschen als "Hirte des Seins". Die Philosophie hat etwas von einem Hirten, aber nicht im Sinne eines Anführers. Sie versucht vielmehr, den Wolf fernzuhalten und zu verhindern, dass sich die Schafe gegenseitig angreifen. Philosophie ist bescheiden, denn sie ist keine Metasprache, sie will nicht die Welt erklären. Aber sie hat die wichtige Aufgabe, stets auf Kategoriefehler zu achten und darauf, dass sich die Existenzweisen nicht zerfleischen.
Philosophie ist sehr anspruchsvoll und auch eine Existenzweise. In meinem System der Existenzweisen. Es geht um Respekt, wie es der große Philosoph William James so schön sagte: Es gilt, die Präpositionen zu respektieren. Was bedeutet das: wissenschaftlich? Juristisch? Politisch? Das Adverb ist wichtig. Religiös gesehen, was heißt das? Wer sagt, er spreche "wissenschaftlich", der muss das auch beweisen können. Ist etwas "fiktiv", muss es standhalten können, "technisch" müssen die Dinge funktionieren. Bei "juristisch" braucht es diese besondere juristische Verbindung. Rechtsfindung braucht Zeit und muss standhalten können.
NT: Mir gefällt die Definition "Hirte des Seins".
BL: Aber die Bedeutung ist anders.
NT: Der Philosoph als Hirte des Seins, aber nicht als Anführer, der die Herde zum richtigen Ort führt.
BL: Philosophie ist so schön!
NT: Was ist so schön für Sie?
BL: Wenn ich auf diese Frage antworten muss, kommen mir die Tränen. Philosophie sind Dinge, die die Philosophen wissen. Es ist diese erstaunliche Weise, die das Gesamte im Blick hat, es aber nie erreicht. Denn es geht nicht darum, es zu erreichen, sondern es zu lieben. Philosophie, das bedeutet Liebe.
NT: Die Liebe zur … - Weisheit.
BL: Die unerreichbar ist. Philosophie ist auch … Ich weiß darauf keine Antwort. Ich setze den Joker!
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Übersetzung und Untertitel: Regina Strübe und Dagmar Klotz
Redaktion ARTE G.E.I.E.: Yvonne von Zeidler Nori
Deutsche Bearbeitung: H.D. Tonstudio GbR
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