r.DialektikOrdnung.Bauman

Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: EVA 1992.

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Man kann sich in unserem beruflichen Alltag recht gut ohne die Heraus­forderung Holocaust einrichten. Der soziologische Berufsstand hat den Holocaust nahezu vergessen oder an »Spezialgebiete« delegiert, von wo aus kein Einbrechen in die laufende wissenschaftliche Diskussion droht. Wenn der Holocaust überhaupt soziologisch untersucht wird, gilt er als tragisches Exempel für das, was ungezähmte, angeborene Aggression des Menschen anzurichten vermag. Man verlangt daher, dieses Potential durch Steigerung des Zivilisationsdruckes zu bändigen, und mahnt unermüdlich fachmänni­sche Problemlösungen an. Bisweilen wird der Holocaust gar als Einzel­schicksal der Juden, als Konflikt zwischen Juden und Judenhassern abgehan­delt (»Fürsprecher« des Staates Israel haben diese Tendenz zur »Privatisie­rung« häufig gefördert, nicht immer aus eschatologischen Gründen).

Um den ehemaligen Außenminister Israels, Abba Eban, zu zitieren: »Für Begin und seine Kohorten ist jeder Feind ein ›Nazi‹, jede Aggression ein »Ausch­witz«.« Und Eban weiter: »Es ist an der Zeit, daß wir auf unseren eigenen Füßen stehen lernen und nicht auf denen der sechs Millionen Toten.«; zitiert nach Michael R.Marrus, »Is there a New Antisemitism?« (in: Curtis (Hg.) 1986, S. 177-178). Radikale Äußerungen wie die von Begin provozieren entsprechende Reaktionen; so urteilt die Los Angeles Times, Begin benutze die »Sprache Hitlers«; oder ein amerikanischer Journalist muß beim Anblick von Palästinensern an die Fotos von Kindern auf dem Weg in die Gaskammer denken; vgl. Alexander in: Antisemitism in the Modern World.

Dieser Stand der Dinge ist nicht nur, und keinesfalls in erster Linie, beunruhigend aus fachlicher Sicht – wenngleich hier natürlich der Intelli­genz und gesellschaftlichen Relevanz der Soziologie beträchtlicher Schaden droht. Viel schwerer wiegt eine andere Dimension des Holocaust: »Was in einem solchen Maßstab passieren konnte, kann überall wieder passieren. Es liegt im Bereich menschlicher Möglichkeiten – Auschwitz, ob wir es wollen oder nicht, hat das menschliche Bewußtsein um einen ebenso entscheiden­ den Schritt erweitert wie die Landung auf dem Mond.«15 Eine entsetzener­regende Vorstellung, da die gesellschaftlichen Bedingungen für Auschwitz eigentlich nicht verschwunden sind. Keine wirksamen Schritte wurden unternommen, die potentiell und prinzipiell mögliche Wiederholung einer Auschwitz-artigen Katastrophe zu verhindern. Leo Kuper schrieb erst kürzlich, daß »souveräne Nationalstaaten ihren Hoheitsanspruch, wenn sie wollen, auf die Verübung von Genozid, Massakern an bestimmten Volks­gruppen und ihrem Staatsvolk ausdehnen können …, wobei die UNO dieses Recht sogar noch verteidigt.«16

Wenn uns der Holocaust posthum doch wenigstens diesen Dienst erweisen könnte: einen Einblick in die sonst ignorierten »andersartigen Aspekte« jener gesellschaftlichen Prinzipien zu geben, die in die Entwicklung der Moderne eingebettet sind. Meiner Ansicht nach sollte der Holocaust, inzwischen zum Gegenstand ernsthafter historischer Forschung aufgerückt, als gewissermaßen soziologischer »Versuchsaufbau« aufgefaßt werden: Er hat Merkmale unserer Gesellschaft freigelegt, die sich unter »nicht-experimentellen« Bedingungen nicht hätten beobachten und empirisch nachweisen lassen, um den Holocaust als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten.

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# Nachbetrachtung: Rationalität und Scham

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[…] Art der Rationalität wurden die Opfer gegeneinander ausgespielt und ihrer Menschlichkeit beraubt. Jeder, der überleben wollte, wurde zur Bedrohung und zum Feind aller, die noch nicht endgültig dem Tode geweiht waren und die sich zunächst noch in der Rolle der Unbeteiligten wähnten. Gnädig entband das rationale Credo sowohl die Opfer als auch die Unbeteiligten vom Vorwurf der Unmoral und von Schuldgefühlen. Das Kalkül der Selbsterhaltung reduzierte das menschliche Leben und beraubte es der Menschlichkeit.

Die Naziherrschaft ist lange überwunden, doch bis heute leiden wir an den von ihr ausgelösten Vergiftungserscheinungen. Denken wir an die chronische Unfähigkeit, die Relevanz des Holocaust ernst zu nehmen und das System des Massenmords wirklich zu durchschauen, denken wir an unsere Bereitschaft, das Spiel der Geschichte weiterhin mit dem präparierten Würfel der Rationalität zu bestreiten, indem nämlich ethische Fragen von vornherein als nebensächlich und verschroben abgetan und mit dem Argument mangelnder Zweckorientierung beiseite gewischt werden - dann müßten wir das Ausmaß der Korruption erkennen, das der Holocaust grell ans Licht gebracht hat, ohne daß es auch nur annähernd beschrieben worden wäre.

In meiner frühesten Kindheit versuchte mein Großvater zwei Jahre lang relativ erfolglos, mich für die Gedanken- und Bildwelt der Bibel zu begeistern. Mag sein, daß er kein besonders guter Lehrer war, oder ich ein störrischer, undankbarer Schüler, jedenfalls ist mir so gut wie nichts aus dieser Zeit im Gedächtnis geblieben. Aber es gibt eine Geschichte, die sich meinem Denken tief eingeprägt hat und die mich viele Jahre beschäftigte: Ein frommer Greis, unterwegs mit einem Esel, der mit Säcken voller Nahrungsmittel bepackt war, begegnet auf der Straße einem Bettler. Der Bettler bittet um etwas zu Essen. »Warte«, sagt da der Greis, »bis ich die Säcke losgebunden habe.« Aber noch bevor er das tun konnte, wurde der Bettler vom Hunger übermannt und sank tot zu Boden. Da betete der Greis und sagte: »Strafe mich, oh Herr, denn ich habe versäumt, das Leben meines Mitmenschen zu retten!« Die tiefe Beunruhigung, die diese Geschichte bei mir auslöste, ist die einzige Erinnerung an die vielen Moralpredigten meines Großvaters. Sie widersprach allem, was ich in der Schule je lernen sollte. Die Geschichte erschien mir unlogisch (und das war sie auch) und deshalb falsch (doch das war sie nicht). Erst der Holocaust führte mir schmerzhaft vor Augen, daß die zweite Aussage nicht notwendigerweise aus der ersten folgt.

218–219

Selbst wenn sicher ist, daß zur Rettung der Opfer des Holocaust konkret nicht viel mehr hätte getan werden können (oder nur zu einem unerhörten Preis), bedeutet das nicht, daß der moralische Konflikt damit ausgestanden wäre. Es ist normal, daß ein moralisch wacher Mensch Scham empfindet (selbst wenn sie angesichts des Zwanges zur Selbsterhaltung als irrational erscheinen muß). Dieses Gefühl der Scham ist die unerläßliche Voraussetzung, um gegen das schleichende Gift und die bösartige Langzeitwirkung des Holocaust immun zu werden; kein noch so penibler und historisch korrekter Versuch, zu berechnen, wer hätte helfen können und wer nicht, oder »wem noch zu helfen war« und wem nicht, wird an dieser Scham etwas ändern.

Für die objektive (das heißt universell verbindliche) Lösung des Problems der moralischen Verantwortung leisten nicht einmal die genauesten quantitativen Methoden zur Erforschung der »Fakten des Falles« etwas. Es gibt kein wissenschaftliches Verfahren, mit dem sich feststellen ließe, ob die nichtjüdischen Nachbarn die Deportation der Juden geschehen ließen, weil die Juden so passiv und fügsam waren, oder ob die Juden ihren Verfolgern deshalb nicht entkamen, weil sie auf die Feindseligkeit oder Indifferenz ihrer Umgebung reagierten und gar nicht erst den Versuch machten. Genausowenig läßt sich wissenschaftlich ergründen, ob die wohlhabenderen Insassen des Warschauer Ghettos das Los der an Hunger und Kälte Sterbenden hätten lindern können, ob die deutschen Juden etwas gegen die Deportation der Ostjuden* hätten unternehmen können oder ob die Juden mit französischem Paß die Internierung der »nichtfranzösischen Juden« zumindest hätten erschweren können. Und was noch schlimmer ist: Die Quantifizierung objektiver Möglichkeiten und die Aufrechnung des Preises verschleiert den moralischen Kem des Problems.

Die Frage ist nicht, ob jene, die überlebten zu Recht Scham oder Stolz empfinden. Sei es, daß sie aktiven Widerstand leisteten oder hilflos zusehen mußten, sei es, daß sie sich passiv verhielten und fürchten mußten, selbst Opfer zu werden. Entscheidend ist, daß das Gefühl der Scham frei macht und die einzige Möglichkeit ist, die moralische Lektion aus dem Holocaust begreifen zu lernen und das Gespenst dieser furchtbaren historischen Erfahrung zu bannen, die uns bis zum heutigen Tage belastet und dazu führt, die Wachsamkeit zu vernachlässigen, um nur ja mit der Vergangenheit in Frieden leben zu können. Die Alternative ist nicht Scham oder Stolz. Die Alternative ist Stolz, moralisch läuternde Scham zu empfinden, oder Scham, wenn man moralisch verheerenden Stolz empfindet. Ich weiß nicht, wie ich damals reagiert hätte, wenn ein Fremder an meiner Tür um Schutz gebeten und mich und meine Familie damit in Lebensgefahr gebracht hätte. Mir ist eine solche Entscheidungssituation erspart geblieben.

219–220

Sicherlich hätte ich meine Ablehnung mir selbst und anderen gegenüber mit einer Bilanzierung der geretteten und geopferten Leben rational begründen können. Sicher ist aber auch, daß ich die schwer zu erklärende, unlogische aber essentiell menschliche Scham empfunden hätte. Und sicher bin ich auch, daß mich die Entscheidung, den Fremden weiterzuschicken, ohne dieses Gefühl der Scham für den Rest meines Lebens korrumpieren würde. Die von einem mörderischen totalitären Staat errichtete Ordnung entmenschlichte die Opfer und jene, die der Verfolgung passiv zusahen, indem beiden die Logik der Selbsterhaltung als Entschuldigung für moralische Indifferenz und Passivität aufgezwungen wurde. Niemand, der unter der Last dieses Druckes zusammenbrach, sollte für schuldig befunden werden. Andererseits darf niemandem aus diesem Grund die Qual der moralischen Selbstverachtung erspart bleiben. Nur wer für das eigene Versagen Scham empfindet, kann die Mauern des psychischen Gefängnisses durchbrechen, das seine Konstrukteure und Aufseher überdauert hat. Unsere Aufgabe ist, die bis zum heutigen Tage fortdauernde Macht des diktatorischen Staatsterrors über die Opfer und die Passiven endlich zu zerstören. Der Holocaust schrumpft mehr und mehr zur historischen Episode. Die Lehre, die wir daraus zu ziehen haben, kann sich immer weniger darauf beschränken, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen oder sich um Wiedergutmachung zu bemühen. Die Verbrecher, die bisher noch nicht vor Gericht gestellt wurden, sind inzwischen - wie viele der Überlebenden - in hohem Alter. Und selbst wenn immer noch der eine oder andere Massenmörder aufgespürt und seinem verspäteten Prozeß zugeführt wird, fällt es schwerer und schwerer, der Monstrosität des Verbrechens mit einem würdevollen Gerichtsverfahren gerecht zu werden (die Peinlichkeiten der Prozesse gegen Demianiuk und Barbie geben ein Beispiel). Es leben auch nicht mehr viele, die zur Zeit des Holocaust bereits alt genug waren, um entscheiden zu können, ob sie einem Unbekannten helfen wollten oder nicht. Wenn die historische Bedeutung des Holocaust damit erledigt wäre, begangenes Unrecht zu sühnen und dafür zu entschädigen, könnte man wohl sagen, er sei als abscheuliches Stück Vergangenheit bei den Historikern bestens aufgehoben. Sühne und Vergeltung reichen als Grund, den Holocaust nie zu vergessen, jedoch nicht aus - das zeigt sich immer deutlicher, denn wir erleben, daß die praktische Relevanz des Holocaust spürbar an Bedeutung verliert. Der Holocaust ist heute weniger denn je eine Privatangelegenheit der Strafverfolger oder der direkten Opfer, die unser Mitgefühl, die Hilfe oder Entgegenkommen erwarten; der Holocaust geht auch nicht nur die Augen zeugen an, die um Vergebung oder den Beweis ihrer Unschuld ringen.

220–221

Die aktuelle Bedeutung des Holocaust liegt darin, welche Botschaft er für die Humanität enthält. Der Holocaust hat uns gezeigt, wie schnell Menschen, die man in eine Situation zwingt, in der es keine gute Entscheidung mehr gibt, oder in der der Preis für gute Entscheidungen unendlich hoch ist, die Frage moralischer Verpflichtung verdrängen oder gar nicht erst stellen und sich statt dessen ganz dem Gebot des rationalen Interesses und der Selbsterhaltung unterwerfen. In jedem System, in dem Rationalität und Ethik in entgegengesetzte Richtungen weisen, bleibt die Humanität auf der Strecke. Das Böse kann nun ungehindert seinen Lauf nehmen und darauf bauen, daß die Menschen im Normalfall von spontanem, leichtsinnigem Handeln Abstand nehmen – und der Widerstand gegen das Böse ist nun einmal leichtsinnig und spontan. Das Böse braucht keine fanatisierten Anhänger und auch kein begeistertes Publikum. Allein der Selbsterhaltungstrieb genügt, wenn er von dem tröstlichen Gedanken genährt wird, selbst noch nicht an der Reihe zu sein und sich durch Passivität womöglich retten zu können. Der Holocaust hält noch eine andere ebenso wichtige Lehre bereit: während die erste eine Warnung ist, bietet die zweite Hoffnung. Aufgrund der zweiten aber kann man die erste nicht oft genug wiederholen. Die zweite Lehre sagt, daß der Selbsterhaltungstrieb die moralische Pflicht nicht notwendigerweise besiegt. Man kann dazu gedrängt, aber nicht dazu gezwungen werden, so daß die Verantwortung nicht auf diejenigen abgewälzt werden kann, die den Druck ausüben. Es spielt keine Rolle, wie viele Menschen moralische Verantwortung über die Rationalität der Selbsterhaltung stellten – wichtig ist, daß einige es taten. Die Tatsache, daß einige wenige widerstanden, entkräftet die Logik der Selbsterhaltung und beweist, daß es immer Entscheidungsmöglichkeiten gibt. Die Frage ist, wie viele sich der Logik des Bösen widersetzen müssen, um sie zu zerstören. Gibt es eine bestimmte Schwelle des Ungehorsams, an der die Technologie des Bösen versagt?