BAMMÉ, Arno, 2011. Homo occidentalis: von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt: Zäsuren abendländischer Epistemologie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. ISBN 978-3-942393-03-4. archive
Genozid
Ethnografische und sozialhistorische Relativierungen
Der soziologische Blick fokussiert anders. Ihm geht es nicht so sehr um die historische Einzigartigkeit des monströsen Geschehens, sondern um die sozialhistorische Struktur, die eine solche Monströsität hervorbrachte, zur alltäglichen Normalität werden ließ und eine Wiederholung, natürlich nicht in dieser einmalig konkreten Ausprägung, als durchaus im Bereich des Möglichen erscheinen lässt, eine Struktur, die, um es in den Worten einer »einfach-einsichtigen Vernunft« auszudrücken, sowohl das »Gute« als auch das »Böse« ermöglicht. Dieser Sichtweise zufolge war der Holocaust kein bloßer Unglücksfall der Geschichte, der sich vernünftiger Erklärung entzieht, sondern er war und er ist als immer wieder mögliches Ereignis in der spezifischen Kosmologie der abendländischen Zivilisation substantiell verankert, eine Zivilisation, die, wie gesagt, wesentlich durch wissenschaftliche Rationalität und technologische Effizienz geprägt ist. Der Holocaust erscheint in ihr als eine Form des Genozids, der in anderen Zivilisationen so nicht vorkommt. Er ist als Möglichkeit, die jederzeit virulent werden kann, sofern die Umstände es erlauben, in der abendländischen Zivilisation, um es einmal in soziologischer Diktion und mit Blick auf Max Weber idealtypisch zu formulieren, strukturell angelegt. Durch seine Analyse lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die sozialhistorischen Rahmenbedingungen, die vorliegen müssen, um aus einem virtuellen ein reales Ereignis werden zu lassen. Der Holocaust habe Merkmale unserer Gesellschaft freigelegt, schreibt Zygmunt Bauman, die sich unter »nicht-experimentellen« Bedingungen kaum hätten beobachten und empirisch nachweisen lassen. Durch ihn können wir einen Einblick in die üblicherweise ignorierten »andersartigen Aspekte« jener gesellschaftlichen Prinzipien erhalten, die in die Entwicklung der Moderne, wie er es nennt, eingebettet sind. Der Holocaust, inzwischen zum Gegenstand ernsthafter historischer Forschung aufgerückt, sei als einzigartiger, aber signifikanter und zuverlässiger Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten, die historische Perspektive sei durch den soziologischen Blick zu ergänzen. Er erlaube es, den Holocaust gewissermaßen als soziologischen » Versuchsaufbau« zu analysieren (1992, $S.25). Es muss an dieser Stelle nicht explizit betont werden, dass sowohl sein Lebenslauf als auch seine Schriften Zygmunt Bauman in diesem Zusammenhang von jeglichem Verdacht des Zynismus freisprechen, dass es hier nicht um moralische Empörung, sondern um soziologische Analyse geht. Die Untersuchung der Schuld ist eine Sache, die Forschung nach den Ursachen eine andere. Ersteres wird nur allzu gern mit Letzterem verwechselt.
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Dass erst die rational bestimmte Welt der abendländischen Zivilisation den Holocaust möglich machte, diese Erkenntnis Baumanns (1992, 5.27) ist so neu nicht. Bereits Anfang der fünfziger Jahre hatte Heidegger in seinem Bremer Vortrag über »das Ge-Stell« diesen Zusammenhang thematisiert. Der darin enthaltene berüchtigte Satz kommt in dem Folgetext über »die Frage nach der Technik« (1965, 5.9-40), in dem er das zugrunde liegende Problem erneut aufgriff, nicht mehr vor. Der inkriminierte Satz lautet: » Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.« Was will dieser Satz, unbeschadet aller möglichen und verständlichen Empörung, die er provoziert, sagen? Was Heidegger in ihm beschreibt, ist ein kettenartiger Zusammenhang gesellschaftlicher Reproduktion, in dem sich scheinbar ganz unterschiedliche Glieder zu einer einheitlichen Welt, die es zuvor in dieser dramatischen Konstellation nicht gegeben hat, zusammenfügen. Als ein Glied in der Kette technologisch formierter Industrien gehört heute die Landwirtschaft, so Heidegger, zur selben Welt wie die »Fabrikation von Leichen in Gaskammern«. Die selbe Welt heiftt nicht, dass die industrialisierte Landwirtschaft an sich schon kriminell wäre. Denn das Selbe schließt auch das Andersartige noch mit ein. Die ihrem Wesen nach technologische Welt ist nicht aus sich heraus verbrecherisch. Aber sie ist eine Welt, in der eine bislang unvorstellbare Form des Verbrechens möglich bzw. wirklich geworden ist. Sie ist, in den Worten Heideggers, eine Welt mit noch nie dagewesenen Gefahren. Heidegger, wie gesagt, schildert den Sachverhalt, aber er benennt keine Ursachen, analysiert nicht die sozialhistorischen Voraussetzungen, die ihm zugrunde liegen.
Ein durchaus gängiges Deutungsmuster weist den Holocaust als Unglücksfall der Geschichte abendländischer Kultur in seinem Kern als zutiefst deutsches Problem aus: grelles Resultat einer spezifisch »deutschen Hysterie« (Bibö 1991, S. 166 ff.). Eine solche Deutung kann sicher gute Gründe für sich in Anspruch nehmen, aber sie enthält nicht die ganze Wahrheit. »Die Frage, was Hitler denn so Besonderes getan hat, mag manche schockieren und ihnen rücksichtslos erscheinen,« schreibt die schwarze Kolumbianerin Plumelle-Uribe. Offensichtlich, so fährt sie aus der Perspektive indigener Völker der so genannten Dritten Welt fort, »gibt es Handlungen, die erst durch die Identität der Opfer zu Verbrechen werden.« Sie gelten dann als verbrecherisch, »wenn sie in Europa an Europäern begangen werden«. Sie werden anders benannt und sind akzeptiert, sobald sie sich »anderswo ereignen und nicht mehr Europäer die Opfer sind« (2004, 5.307). Es handelt sich hierbei um einen Gedankengang, der sich bereits ein Dezennium zuvor in Galtungs Berliner Vortrag findet, im Rahmen dessen er die Interpretation Heideggers ergänzt bzw. relativiert: »Das, was ich typisch deutsch finde und besonders typisch in der Nazi-Epoche, ist nur ein Unterteil von dem, was ich Homo occidentalis nenne.
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Homo occidentalis wäre (...) sozusagen er Grundtypus.« Was, so fragt er, folgt aus dieser Zuordnung? Und er antwortet: »Was die Nazis getan haben, ist sehr wenig unterschiedlich zu dem, was die Engländer, die Franzosen und besonders die Amerikaner, aber auch die Belgier, die Niederländer, die Spanier, die Portugiesen, die Dänen in der Dritten Welt getan haben. Ausrotten, Foltern, Raub, Vergewaltigung, Diktatur. Wenn wir auf diese Weise andere Leute und andere Kulturen ausrotten, finden wir, ist es nicht, wie bei den Nazis so spezifisch. Ich gestehe, er hat etwas Industrielles, dieser Genozid der Nazis, aber das hat mit der Zeitgeschichte zu tun. Man könnte sagen, wenn die Engländer dafür verantwortlich sind, im nordamerikanischen Gebiet im vorigen Jahrhundert zwischen zehn und vierzehn Millionen Indianer ausgerottet zu haben, dann war das mehr handwerklich, es war nicht industriell. Ich bin aber nicht bereit zu sagen, daß das wirklich ein Unterschied ist, der wichtig ist« (1991, S.264). Mit dieser Aussage relativiert Galtung die Interpretation Heideggers, dem im Berliner Tagungsband ein eigener Beitrag gewidmet ist ($.147-173), und nimmt die Deutung Plumelle-Uribes vorweg: »Was für die Nazis spezifisch ist, war etwas ganz anderes: Sie haben es in Europa gemacht. Das war für die Europäer ein Schrecken. Deswegen war die Vokabel für die Nazis: ‚Die Barbaren in unserer Mitte«. Im Club der Abendländer hat man den Deutschen in die Ohren geflüstert: »Das könnt ihr nicht zu Hause machen. In Afrika, in Asien und in Amerika, gegen die Indianer, könnt ihr das tun, aber nicht zu Hause; auch nicht gegen Juden«. Die Juden sind Europäer und sind Weiße« (Galtung, a.a.O., S.265).
Dass der industrialisierte Genozid einerseits »mit der Zeitgeschichte zu tun« hat und andererseits als etwas Abendländisches verstanden werden muss, erläutert Galtung, indem er Parallelen zieht zwischen unterschiedlichen Ausprägungsformen, wie sie sich personifiziert haben im Homo hitlerensis, im Homo stalinensis und im Homo reaganensis: »Ich sage jetzt Reagan und nicht Bush, weil Reagan es formuliert hat. Bush ist eigentlich ein Technokrat, geht in dieselbe Richtung, der redet über einen Krieg am Golf, möglicherweise mit einer Million Getöteten, als ob es ein Job wäre. »Let us get the job done« ist die Auffassung. Und ich könnte sagen, dass, wer immer die Ausrottung der Juden studiert, hier dieselbe Bürokratisierung des Todes erkennt. Warum sage ich das so? Um nicht in die Falle zu geraten, zu denken, der Nazismus sei so eigentümlich. Ich verstehe das Problem insgesamt als etwas Abendländisches« (ebd.).
Galtungs Argumentation ist eingebettet in eine soziokulturelle Morphologie, die er als »europäische Tiefenideologie« bzw. »Kosmologie« bezeichnet und in der er dem Nordwesten Europas seit der Reformation eine geopolitische Vorreiterrolle, im Positiven wie im Negativen, zuerkennt.
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Durch diese geopolitische Perspektivierung ergeben sich Erkenntnismöglichkeiten, die über bisherige Deutungen hinausgehen, aber sie beinhalten noch keine unmittelbare Ursachenerklärung des Holocaust.
Einer solchen soziokulturellen Ursachenerklärung ein gutes Stück näher kommt Alfred Weber, wenngleich er sich dabei einer ganz eigentümlichen Ausdrucksweise befleißigt. Weber unterscheidet drei »Sphären des geschichtlichen Seins«: den Gesellschaftsprozess, den Zivilisationsprozess und die Kulturbewegung. »In der Wirklichkeit des historischen Lebens sind sie untrennbare Teile einer Einheit.« Es handelt sich bei ihnen um »sachlich verschiedenartige Inkremente des jeweiligen Geschichtsganzen«, die lediglich »für die Analyse getrennt werden« (Weber 1931, S.287). In seiner Unterscheidung rekurriert er im Grunde auf die traditionelle anthropologische Trias von Körper, Geist und Seele. Den Zivilisationsprozess versteht Weber als progressiv-linearen Prozess mit universalem Charakter, der zugleich irreversibel ist und durch alle Geschichtskörper hindurchgeht. In Webers Augen umfasst der Zivilisationsprozess das Reich der Mittel, jener Phänomene, die sich durch Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit auszeichnen und auf die Beherrschung der Natur, des Daseins im Weiteren, abzielen. Ihre Entstehung folgt den Gesetzen der logischen Kausalität. Auf jede Etappe ihrer Genese sind die Begriffe richtig oder falsch anwendbar. Sie zeichnen sich aus durch Allgemeingültigkeit, Notwendigkeit und Übertragbarkeit. Sie lassen sich deshalb in gewissen Grenzen beliebig transferieren und können im Gegensatz zu kulturellen Phänomenen von allen Geschichtskörpern realisiert werden. Die Kulturbewegung hingegen verläuft diskontinuierlich. Sie kennt auch keine universalen Abläufe. In ihr drücken sich, so Weber, seelische Grundkonstellationen aus, die sich einer rationalen Erklärung weitgehend verschließen: Religionen, Ideensysteme, Kunstwerke usw. als Ausdruck schöpferischen Gestaltungswillens. Die Bewegungsformen des Gesellschaftsprozesses bleiben bei Weber, nicht zuletzt seinem Erkenntnisinteresse geschuldet, weitgehend unklar. Grundsätzlich sieht er auch hier eine Evolution am Werk, die eine Fortentwicklung von einfacheren zu komplizierteren Formen der Geschichtskörper beinhaltet. Dass Weber den Gesellschaftsprozess so vernachlässigt, dürfte auch daran liegen, dass er ihn als historische Realität in seiner unmittelbaren Evidenz als nicht erklärungsbedürftig ansah, zumal er sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich von anderen Soziologen seiner Zeit unterschied.
Für Weber ist nun entscheidend, dass die seit etwa 1880 eintretende Beschleunigung der zivilisatorischen und gesellschaftlichen Entwicklung immer weniger mit der Kultursphäre zur Deckung kommt.
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Die evolutive Dynamik des abendländischen Geschichtskörpers äußert sich unter anderem darin, dass im Wirtschaftsprozess Profit- und Rationalitätsaspekte nahezu rein zur Geltung kommen, dass der Staat nach reinen Machtinteressen auf der Grundlage eines technisierten Militarismus handelt, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt mit seiner Beschleunigung aller Vorgänge zum Selbstzweck verkommt, dass also die gesellschaftlichen und zivilisatorischen Prozesse immer weniger von Wertesystemen reguliert werden.
Nicht nur entwickeln sich die gesellschaftlichen Institutionen frei vom Regulativ traditioneller Normensysteme, ausschließlich einer evolutiven Eigendynamik folgend, sondern auch beim einzelnen Menschen setzen sich sukzessive persönliche Macht- und Profitinteressen gegenüber überlieferten Normen, Werten und Sitten durch. Die Entstehung des modernen Staates, die beschleunigte Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, der immer schneller voranschreitende wissenschaftlich-technische Fortschritt und die umfassende Bürokratisierung der Gesellschaft haben die Geburt eines neuen Menschentyps zur Folge: Webers berühmten »vierten Menschen«. Er löst den bisherigen, um Verantwortungsbewusstsein, Humanität und Menschenwürde bemühten sogenannten »dritten Menschen« ab, der sich auf der Basis des Christentums, der Aufklärung und des Humanismus als mit sich selbst identische, einheitliche Persönlichkeit zu verwirklichen trachtete. Der »vierte Mensch« hingegen ist, in der Diktion Webers, ein ganz »anderes, ein fragmentarisiertes, pluralistisches Wesen ohne regulierende und integrierende Menschlichkeitsmitte« (1950, 5.458). Er ist ein »Mensch gleichsam mit einer Persönlichkeitsspaltung, dessen eine Hand nicht mehr weiß, was die andere tut, ein im Bewusstsein gespaltener Mensch, der in einem Bereich bewusster Zyniker sein muss, während er in einem anderen, in voller Helligkeit innerlich abgeteilten Bereich in altgeheiligtem reinem Drang mitformt an der menschheitsnotwendigen Gestalt des Weltbildes« (a.a.O., 5.448). Entscheidend für die Genese dieses »vierten Menschen« ist Weber zufolge vor allem die umfassende Bürokratisierung aller Lebensbereiche. In ihr erblickt er die eigentliche Revolution des 19. Jahrhunderts. Die Desintegration des Menschen, die durch diesen ungeheuerlichen geschichtlichen Vorgang der äußeren Lebenseinfügung des Menschen bewirkt wird, deutet er als technische Vorstufe für den in einer logischen Evolutionsreihe stehenden »rücksichtslos mechanisierenden terroristischen Totalitarismus mit seiner Vollentmenschlichung« (1953, S. 55). Der »Totalitarismus« baut auf dieser »Persönlichkeitsspaltung« auf und überführt sie in eine »Persönlichkeitsauflösung«, »bis ein an sich gutmütiges, menschliches Wesen als ein zweites, ein Funktionärswesen, imstande ist, im Dienste des Es Dinge zu vollziehen, die von äußerster Unmenschlichkeit sind, und die es nur vollziehen kann, weil es nicht mehr ein, sondern zwei oder mehr Wesen darstellt. Das Phänomen, das die Gegenwart (und zwar nicht nur im Nationalsozialismus, der nur eine äußerst schreckliche Verdichtung davon war) als eine psychologische Neuheit und Abnormität, in Wahrheit als ein Anzeichen der Heraufkunft eines neuen Typus von Menschen erlebt« (1950, $.460).
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Ob Weber Arthur Koestlers Roman »Sonnenfinsternis« (1940) gekannt hat, weiß ich (Bammé) nicht, jedenfalls findet sich dort in belletristischer Fiktion eine ausgezeichnete Paraphrase des »vierten Menschen«, nicht nur in der Figur des Rubaschow. Zu nennen wäre gleichfalls Hannah Arendts Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann (1995), ein Bericht über die »Banalität des Bösen« (aktuell: Haller 2009). Das Beunruhigende an der Person Eichmanns zeigt sich an zweierlei: erstens dass er war wie viele und zweitens dass diese Vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren. Diese »Normalität« ist deshalb so beunruhigend und nach wie vor ein Desiderat soziologischer Forschung, weil sie impliziert, dass dieser Tätertypus unter Bedingungen handelt, die jederzeit virulent werden können, also keineswegs Geschichte sind. Ungläubiges Staunen war denn auch oft die Reaktion der Nachgeborenen auf Enthüllungen der Vätergeneration. So berichtet Peiffer von Ärzten, die er nach dem Krieg, in den soer Jahren als Universitätslehrer kennen lernte. Es waren » wie Hallervorden liebenswert erscheinende Persönlichkeiten, hochgebildet, kultiviert und auch im persönlichen Umgang mit ihren Mitarbeitern hilfsbereit und aufgeschlossen« (2000, $.172f.). Als umso unverständlicher erschien ihm, dass sie eingebunden waren in die Verbrechen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms.
Für Weber stellt die Bürokratie in einem parlamentarisch regierten demokratischen Staat gleichsam eine Art trojanisches Pferd des Totalitarısmus dar (1950, 5.484). Als vorläufiger Endpunkt auf einer verlängerten Evolutionslinie der bürokratisierten Gesellschaft ist deshalb etwa der Faschismus bzw. der Nationalsozialismus für ihn zunächst einmal kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern in allen vergleichbar organisierten Gesellschaften grundsätzlich möglich und jederzeit wiederholbar. Damit aus einer strukturellen Möglichkeit Realität werden kann, müssen allerdings bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, die in dieser Form zum Beispiel in den angelsächsischen Ländern nicht gegeben waren. Weber benennt vier Faktoren, die zusammentreffen mussten, damit in Deutschland der Nationalsozialismus Realität werden konnte: (r) die obrigkeitsstaatlich-bürokratische Tradition des Landes, (2) die durch den sozialökonomisch überaus rasch verlaufenden Modernisierungsprozess bedingten charakterlichen Wandlungen, (3) der mit der Politik Bismarcks einhergehende Kulturverlust, insbesondere die Kapitulation der Intellektuellen vor der Politik und (4) die sich aus den Folgen des Ersten Weltkrieges und des Versailler Vertrages ergebenden Probleme der Weimarer Republik (vgl. Imbusch 2005, S.222ff.). Weber gab sich keinerlei Illusionen über die Wiederholbarkeit der im deutschen Namen verübten »Makroverbrechen« hin: Was sich in Deutschland einmal ereignet habe, könne sich andernorts durchaus wiederholen (1953, 9.42).
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Überblickt man das Werk Alfred Webers, so findet man neben einer erstaunlich aktuellen Fragestellung eine breit angelegte, kultursoziologisch orientierte Geschichtstheorie, die nicht nur allgemeine Aussagen über die geschichtliche Entwicklung macht, sondern darüber hinaus auch konkrete Einzelphänomene in einer bestimmten historischen Konstellation analysiert. Peter Imbusch hat jüngst darauf hingewiesen, dass Alfred Weber damit einer der wenigen Soziologen sei, die sich in ihren Zeitdiagnosen und soziologischen Schriften mit dem Ersten Weltkrieg, mit dem Phänomen des Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg, und nicht zuletzt auch mit dem Stalinismus auseinandergesetzt haben. Dass dies in einer »spezifischen Weise« geschah, die sich logisch konsistent in sein übriges Denken einfügt, wird man ihm heute, so fügt er hinzu, mehr als fünfzig Jahre nach Erscheinen seiner Schriften, kaum ernsthaft vorhalten können, dies umso weniger, als sich in den Nachkriegsschriften der Mehrzahl »großer soziologischer Geister« nur Dürftiges zu diesen Katastrophen findet und auch heute noch eine gewisse Abwehrhaltung gegenüber einer soziologischen Analyse der von ihm behandelten Ereignisse vorherrscht (2005, S.241). Nicht nur das: Webers Zeitdiagnosen hätten sich, so Imbusch, weitgehend als zutreffend herausgestellt und er sei als nüchterner Beobachter seiner Zeit der Versuchung einer moralisierenden Kritik der Moderne, welche die Ursachen der sich ausbreitenden Barbarei in einer schicksalhaft wiederkehrenden Dämonie finsterer metaphysischer Mächte zu verankern suchte, gerade nicht erlegen. Vielmehr habe er die realen Ursachen in machtpolitischen Rivalitäten und ökonomischen Entwicklungen zu fundieren gewusst und die Unentrinnbarkeit des Zivilisationsprozesses und der Bürokratisierung mit den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die Menschen, sie kulturell zu bewältigen, in skeptischer Distanz analysiert (a.a.O., $.242f.).
### 5.3.2 Soziologie des Holocaust
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