r.Macht.Luh

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VI. Differenzierung

Die klassische Machttheorie hatte getrennte, widerspruchsvolle Bedürfnisstrukturen, also soziale Differenzierung, vorausgesetzt. Differenzierung galt ihr als vorgefundene, naturhaft vorhandene Quelle von Konflikten und damit als Anlaß zur Machtentfaltung. Diese Auffassung konnte als adäquat gelten, solange das Prinzip segmentierender Differenzierung in der Welt vorherrscht, also eine Form der Differenzierung, die annähernd gleiche Einheiten nebeneinandersetzt: Familien, Stämme, Staaten, Gesellschaften. Im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung tritt jedoch an deren Stelle in wachsendem Umfange eine andere, leistungsfähigere Form der Differenzierung nach spezifischen Funktionen, die den Aufbau sehr viel komplexerer Systeme ermöglicht.

Siehe hierzu namentlich die klassische Studie von Emile Durkheirn, De la division du travail social, 7. Aufl., Paris 1960; ferner Simmel, Über sociale Differenzierung, a. a. 0. (Anm.97).

Funktionale Differenzierung zwingt zur Bildung immer umfassenderer Sozialsysteme. Diese bilden in sich nach Maßgabe spezifischer Funktionen Teilsysteme, die nun ihrerseits im Verhältnis zueinander weder gleich noch autark sein können.

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Solche funktionsspezifisch ausgerichteten Teilsysteme wie Kirchen, Staatsbürokratien, Kleinfamilien, Wirtschaftsbetriebe, Organisationen der Krankenpflege, Schulen, Armeen usw. geraten in eine starke wechselseitige Abhängigkeit voneinander, die in der Struktur des Gesamtsystems, der Gesellschaft, als permanente Bestandsbildung verankert ist. Gewiß kommt auch segmentierende Differenzierung noch vor, aber sie muß sich nun ihrerseits funktional rechtfertigen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die (allerdings in einfache Gesellschaften rückprojizierte) funktionale Rechtfertigung der segmentierenden Differenzierung der Politik bei M. G. Smith, On Segmentary Lineage Systems, Journal of the Royal Anthropological Institute ofGreat Britain and Ireland 86 (1956), S. 39-80. Man könnte ferner die These aufstellen, daß die segmentierende Differenzierung der Gesellschaft in eine Vielzahl von Kleinfamilien aufrechterhalten werden muß, weil für die Funktion der Familie eine sehr geringe Komplexität des Systems wesentlich ist.

Für die Beschreibung der Machtverhältnisse in solchen, funktional differenzierten Sozialordnungen wird die klassische Machttheorie unangemessen. Eine eindeutige kausale Zurechnung von Machtbesitz und Machteffekt ist wegen der Komplexität der Beziehungen nicht mehr möglich. Auch die Orientierung am Extremfall des rücksichtslosen Kampfes wird zunehmend irreal. Man braucht sich, um das zu sehen, nur die Frage vorzulegen, welche Macht die Techniker haben, die für die Sicherheit des Luftverkehrs verantwortlich sind; oder die Chirurgen; oder der Vorsitzende des Haushaltsausschusses eines Parlamentes; oder die großen Ölfirmen.

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Weder ist in solchen Fällen eine Kausalzurechnung möglich, weil alle diese Teilsysteme ihre Macht nur ausüben können, indem sie sich der Macht anderer unterwerfen und schon reduzierte Komplexität übernehmen. Noch sind extreme Dauerkonflikte denkbar, ohne daß das Gesamtsystem darin ein Problem sehen und nach funktional äquivalenten Alternativen suchen und sie finden würde, für gesperrte Einzelbeiträge und rebellierende Teilsysteme also unter dem Gesichtspunkt ihrer spezifischen Funktion einen (mehr oder weniger kostspieligen, mehr oder weniger adäquaten) Ersatz beschaffen würde.

Faktisch tritt deshalb in funktional differenzierten Gesellschaften die funktionale Interdependenz der Teilsysteme und die darin verankerten permanenten Rücksichten als Machtgrundlage weitgehend an die Stelle elementarer Machtmittel wie Treue oder Zwang. Umgekehrt gesehen, kann funktionale Differenzierung großen Stils sich nur entwickeln, wenn diese elementaren Machtgrundlagen umstrukturiert und mit spezifischen Funktionen in die neue Ordnung eingebaut werden können. Weil dies so ist, müssen die motivkräftigen Loyalitäten bei zunehmender funktionaler Differenzierung mitdijferenziert werden, und die allgemeine Wertordnung muß abstraktere, weniger unmittelbar bindende Formen annehmen (etwa auf die »Nation« bezogen werden). Aus dem gleichen Grunde ist funktionale Differenzierung nur erreichbar, wenn die Verfügung über legitimen physischen Zwang zentralisiert und selbst zu einer spezifischen Funktion umgebaut wird, die durch das politisch-administrative Teilsystem der Gesellschaft nach bestimmten Regeln

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verwaltet wird.131 Es wird auf diese Weise gewährleistet, daß physische Gewalt allen Mitgliedern der Gesellschaft nach Maßgabe jener Regeln zugänglich ist, daß aber gleichwohl die Zentralisierung der Entscheidungen über Gewaltanwendung keine entsprechende Konzentration der Macht zur Folge hat, sondern Macht in einer solchen Gesellschaft nun weitgehend auffunktionale Abhängigkeiten gestützt werden muß. Nur so kann der Machtbedarfhochdifferenzierter Gesellschaften befriedigt, und nur so kann verhindert werden, daß die verfügbare Macht zurückgeschnitten wird auf das relativ geringe Kommunikationspotential derer, die die Anwendung physischer Gewalt programmieren bzw. darüber entscheiden.

Zusammenhänge dieser Art, die das Gesicht der neuzeitlichen Gesellschaften und ihrer »Nationalstaaten« geprägt haben, ließen sich nur sehr verzerrt und umständlich erfassen, wollte man weiterhin von der Annahme ausgehen, daß Macht allein auf dem Durchsetzungsvermögen im Konfliktsfalle beruhe. Entsprechend müssen auch die übrigen Prämissen der klassischen Machttheorie revidiert werden. Die Macht in einem funktional differenzierten System ist nicht transitiv, sondern mit reziproken und mit zirkulären Strukturen durchsetzt, und sie bleibt auch nicht summenmäßig konstant. Wenn nämlich die Komplexität des Systems, also die Zahl der Möglichkeiten, die zur Wahl stehen, und die Interdependenzen im System

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wachsen, nimmt auch die Macht des Systems zu. Alle Teilsysteme können dann, entsprechende Organisation vorausgesetzt, mehr Macht aufbieten, um den Selek:tionsbereich anderer einzuschränken, und werden häufig, um dies sinnvoll tun zu können, mehr Machteinwirkung akzeptieren müssen (es sei denn, daß andere Mechanismen der Übertragung von Selektionsleistungen, etwa Wahrheit oder Liebe oder Geld, einspringen). Die Diskussionen um den »demokratischen Zentralismus« im Osten und Gruppenführung im Westen haben diese Einsicht unabhängig voneinander nahegelegt und in seltenen Momenten der Erleuchtung sogar formuliert. 132

Für die klassische kausalistisch und handlungstheoretisch ansetzende Machttheorie läßt sich nach alldem festhalten, daß sie dem Phänomen der funktionalstrukturellen Differenzierung und seiner Bedeutung für die Machtlage in sozialen Systemen nicht voll gerecht werden kann. Für die systemtheoretische Machtkonzeption gilt das Umgekehrte: daß sie eine Theorie der Systemdifferenzierung entwickeln muß, weil sie anders ihre Analysen nicht durchführen kann.

Die Systemtheorie geht, wie gezeigt, davon aus, daß alle Macht durch Prozesse der Generalisierung in Systemen erzeugt wird, um den Bedarf für eine Transmission von vollzogenen Selektionsleistungen zu befriedigen. Generalisierung ist an Systeme gebunden, weil sie eine Bestimmung und ein Konstanthalten von

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Grenzen erfordert. Macht gibt es danach nur im System. Da es aber offensichtlich viele Systeme gibt, muß jede Machtanalyse systemrelativ geführt werden und zunächst ihr Bezugssystem wählen.133 Eine Analyse des internationalen politischen Systems würde ganz andere Strukturen und Prozesse hervorheben und ganz andere Intensitäten und Verteilungen feststellen als die Analyse einer Eskimosippe, einer Rundfunkanstalt oder des politischen Systems eines Nationalstaates. Deshalb muß auch während einer Untersuchung die Systemreferenz konstant gehalten werden auch dann, wenn die Machtverhältnisse verschiedener Systeme zusammenhängen. Es ist zum Beispiel ein Unterschied, ob man die Machtverhältnisse im leitenden Gremium einer Partei untersucht oder die Macht dieses Gremiums in der Partei, die Macht dieser Partei im politischen System ihrer Gesellschaft, die Macht dieses politischen Systems in seiner politisch geeinten Gesellschaft oder die Macht dieser Gesellschaft im internationalen politischen System.

Mit der Angabe des jeweils untersuchten Systems ist unser Problem indes nur in einem sehr vordergründi-

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gen Sinne gelöst. In der Analyse selbst taucht es in zwei Formen wieder auf:

Einmal muß jedes System als in sich in Teilsysteme differenziert betrachtet werden.134 Im Vordergrund des analytischen Interesses steht zwar die Frage, wie Selektionsleistungen zwischen diesen primären Teilsystemen übertragen werden, aber deren Beantwortung kann nie ganz von der Frage getrennt werden, wie Selektionsleistungen in den Teilsystemen übertragen werden, ob diesen dafür viel Macht ( oderWahrheit, oder Geld, oder Liebe) zur Verfügung steht und in welchem Maße zeitlich-sachlich-sozialer Generalisierung. Es mag in einer politischen Partei zum Beispiel mächtige Cliquen geben, die in fast allen Fragen aufGrund ihrer internen Machtverhältnisse rasch und einmütig Stellung beziehen können und ihre (für sie externe) parteiinterne Macht darauf gründen, daß in der Partei geschlossenes Auftreten und Konsensbildungsfähigkeit als Entscheidungserleichterungen honoriert werden. Die Machtverhältnisse des untersuchten Systems können so wegen dessen Eigenart und Problemkonstellation mitbestimmt sein durch die Innenordnung seiner Teilsysteme. Das ergibt sich aber nicht durch ein einfaches Zusammenrechnen und Aggregieren der Macht von Teilsystemen, die sich ja auch gegeneinander wenden

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können. Vielmehr sind Teilsysteme und Gesamtsystem inhomogene Einheiten, zwischen denen Macht nicht ohne weiteres transferierbar ist. Ebendeshalb ist die Machtbildung in Teilsystemen ebenso unentbehrlich wie gefährlich, und die Erhaltung der Reflexivität der Macht im Gesamtsystem -also der Anwendbarkeit seiner Macht auf die Macht der Teilsysteme und von deren Macht aufseine Macht -bleibt ein permanentes Problem.

Zum anderen muß dasselbe Problem auch an den Außengrenzen des jeweiligen Bezugssystems beachtet werden. Systemmacht ist, mag sie zeitlich-sachlichsozial so vollständig generalisiert sein wie nur denkbar, nicht ohne weiteres umweltwirksam. Eine religiöse Sekte, die über alle Möglichkeiten interner Willensbildung und Entscheidung verfügt, mag der Lächerlichkeit anheimfallen, eine politische Partei trotz hoher Innenmacht sich in ihrem politischen System in permanenter Opposition finden. Niemand wird die Innenmacht der katholischen Kirche in Polen bestreiten, und doch kann sie politisch auf weitgehend folgenlose Darstellung von Ansichten beschränkt werden. Vielleicht sind solche Grenzfälle bei funktionaler Differenzierung typisch unstabil, weil das System dank seiner Entschlußkraft entweder die Beziehungen zur Umwelt durch Umstrukturierung bessern kann oder die hohe Innenmacht auf die Dauer nicht erhalten kann. Die Einsetzbarkeit von Systemmacht in der Umwelt, ihre wirksame, nützliche Verwendbarkeit, "ist natürlich ein unwegdenkbarer Faktor bei der Generalisierung inter-

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ner Macht. Andererseits ist Innenmacht keineswegs eo ipso Macht, die als Macht des Systems in Umweltbeziehungen eingesetzt werden kann, da die dort sich ergebenden Machtchancen durch die Bedingungen eines anderen Systems regiert werden. Die Weiterleitung von Macht über Systemgrenzen ist also auch hier ein Problem.

Sieht man den Aufbau stark differenzierter Großsysteme als Ganzes -etwa vom Standpunkt einer relativ großräumigen, hochkomplexen Gesellschaft aus -, dann erweist sich in der Tat das Problem dieser Innengrenzen und der relativ geringen »Konvertibilität« in-. terner Macht als ein kritisches Hindernis bei der Konsolidierung großer Macht an einer Stelle. Es mag sein, daß es auch auf dieser Systemebene noch Mechanismen der Generalisierung von Einfluß gibt, die darüber hinwegzuhelfen vermögen. Das sind Fragen, die nur spekulativ gestellt werden können und empirisch beantwortet werden müssen. Andererseits werden Großgesellschaften aus ebendiesen Gründen gut daran tun, wenn sie sich nicht primär aufMacht, sondern in erster Linie auf intern besser konvertierbare Mechanismen der Übertragung von Selektionsleistungen, namentlich also auf Wahrheit und auf Geld, stützen. Ein anderes Hindernis der Machtkonzentration tritt hinzu und wirkt in gleicher Richtung: die zu geringe Entscheidungskapazität einzelner Stellen.

Solange die Gesellschaftsstruktur relativ einfach war und primär auf Verwandtschaftssystemen, also segmentierender Differenzierung, beruhte, war die

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mobilisierbare Macht gering: Es gab wenig Möglichkeiten, zwischen denen man wählen konnte. Ebendeshalb konnte es bei der politischen Macht eines Herrschers im wesentlichen darum gehen, welche Art von Sammelleidenschaft befriedigt wurde, ob und wieviel Schätze, Truppen, Frauen, Schlösser, Hoheitsrechte oder Territorien der Herrscher anhäufte. Das alte Problem der Despotie ruhte auf dieser Voraussetzung, daß Systemmacht und persönliche Ziele in Einklang zu bringen waren. In Grenzfällen ist diese Art persönlicher Politik natürlich auch heute noch denkbar, als Politik der territorialen Ausdehnung, der Sammlung von Atombomben oder von Prestigeerfolgen -zumeist jedoch mit ernsthaften dysfunktionalen Folgen. Die Macht steigt durch weitgetriebene Differenzierung so stark an, daß sie durch kapriziösen, arbitären Machtgebrauch nicht mehr ausgeschöpft werden kann.135 Dem »Alleinherrscher« fehlen hinreichend differenzierte Motive. Im Grunde kann nur sehr geringe Macht willkürlich verausgabt werden.136 Wird die Systemmacht

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stärker generalisiert und müssen infolge gestiegener Komplexität mit jeder Entscheidung mehr Alternativen ausgeschieden werden, wird es offensichtlicher Unsinn, einige wenige Motive dominieren zu lassen. Die Systemmacht entzieht sich dann als Ganzes der Verwendung durch einzelne Entscheidungsträger. Jede Entscheidung setzt vorherige und nachherige mitseligierende Einflüsse auf den Entscheidungsprozeß voraus. Entsprechend müssen im differenzierten System die Organisations- und Kommunikationsleistungen verstärkt werden. Die Macht ist dann so stark generalisiert, daß sie nur noch durch Annahme von Einfluß ausgeübt werden kann. Wo immer sie im System erscheint, lenkt sie Einfluß aufsich. Diese Einflußchance kann durch andere Teilsysteme wahrgenommen werden. Auch insofern bedingen sich Generalisierung der Macht und Differenzierung der Struktur.

Solche Überlegungen drängen, zusammengenommen, den Schluß auf, daß die Art und die Stärke der Systemdifferenzierung in der Machttheorie mehr als bisher als zentrale Variable Berücksichtigung finden

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müßte. Von ihr hängen die Komplexität des Systems, nämlich die Zahl der zur Wahl stehenden Möglichkeiten und die Interdependenzen im System ab. Differenzierung ermöglicht es, sich an Systemgrenzen zu orientieren und Macht im System und Macht des Systems zu unterscheiden. Von ihr hängt ab, welcher Bedarf besteht für die übertragung vollzogener Selektionsleistungen, wieweit zur Befriedigung dieses Bedarfs Systemmacht geschaffen werden muß und wieweit diese Macht über Systemgrenzen hinaus konvertibel ist, so daß die interne Selektion auch außerhalb des Systems Anerkennung findet. Mit alldem ist kein unmittelbarer und feststehender Variationszusammenhang zwischen Systemdifferenzierung und Systemmacht behauptet. Man darf bei solchen Überlegungen zum Beispiel den Faktor Organisation nicht vernachlässigen, die zahlreichen Mechanismen nicht übersehen, die ein Reflexivwerden der Einflußprozesse ermöglichen, und schließlich auch die Bedeutung von Kalkulation und Verhaltensgeschick der Beteiligten nicht unterschätzen. Gleichwohl bleiben Art und Ausmaß der Systemdifferenzierung diejenigen Variablen, die für wohl alle Systemfunktionen und so auch für den Machtmechanismus die Probleme angeben, die gelöst werden müssen, wenn ein System entsprechender Komplexität geschaffen und erhalten werden soll.

Die geforderte Einbeziehung der Systemdifferenzierung wird sich kaum durch einen Ausbau der klassischen Machttheorie, durch ihre Erweiterung um diesen einen Gesichtspunkt, erzielen lassen. Der klas-

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