r.Mensch.Gehlen

GEHLEN, Arnold, 2016. Der Mensch. Online. Klostermann. Available from: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783465142898/der-mensch [Accessed 25 January 2024].

p. 79

Unabhängig hiervon, aber nach eigenen Äußerungen nicht von Kantischen Gedankengängen hat J. v. Uexküll (v. Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, 1921; Bausteine zu einer biolog. Weltanschauung, 1913. Uexküll-Kriszat, Streifzüge durch die Umwelt von Tier und Mensch, 2 1958) in seinen bekannten Schriften die Zugeordnetheit von Organausstattung und Umwelt des Tieres untersucht. Er achtete dabei besonders auf die Frage, welche Sinnesreize einem Tiere kraft seiner besonderen Ausstattung mit Sinnesorganen allein gegeben sein können, und kam zu der Ablehnung der naiven Vorstellung, die den Tieren unsere Welt als ihre eigene zuschreibt, während in Wirklichkeit jede Art ihre eigene artspezifische Umwelt hat, zu deJren Bewältigung und Erfahrung sie ein System spezialisierter Organe besitzt. Kennen wir die Sinnesorgane und Leistungsorgane eines Tieres, so können wir seine »Umwelt« rekonstruieren. Ich erinnere nur an einige der bekanntesten Beispiele Uexkülls: die Zecke (Holzbock) wartet an den Ästen eines beliebigen Strauches, um sich auf warmblütige Tiere herabfallen oder von ihnen abstreifen zu lassen. Augenlos, besitzt sie einen allgemeinen Lichtsinn der Haut, anscheinend um sich auf dem Wege nach oben zu orientieren, wenn sie ihren Wartepunkt erklettert. Die Annäherung der Beute wird dem sonst blinden und tauben Tier durch den Geruchssinn angezeigt, und zwar ist dieser Sinn allein abgestimmt auf den einzigen Geruch, den unterschiedslos alle Säugetiere ausströmen: den der Buttersäure. Bei diesem Signal läßt sie sich fallen, und wenn sie auf etwas Warmes fällt und ihr Beutetier erreicht hat, so folgt sie ihrem Tast- und Temperatursinn, um die wärmste, d. h. haarlose Stelle zu finden, wo sie sich in das Hautgewebe einbohrt und sich voll Blut pumpt.

Die »Welt« dieser Zecke besteht also nur aus Licht- und Wärmeempfindungen und aus einer einzigen Geruchsqualität. Es ist erwiesen, daß sie keinen Geschmackssinn hat. Ist ihre erste und einzige Mahlzeit zu Ende, so läßt sie sich zu Boden fallen, legt ihre Eier ab und stirbt.

[…]

Schon dieses eine Beispiel beweist schlagend die Harmonie zwischen dem organischen Bau des Tieres, d. h. seiner speziellen Organaustattung, zwischen seiner Umwelt (den ihm zugänglichen Außenwelteindrücken) und seiner Lebensweise, seinen Lebensumständen.

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PÖHLMANN, Egert, 2019. Der Mensch – das Mängelwesen? Zum Nachwirken antiker Anthropologie bei Arnold Gehlen. Archiv für Kulturgeschichte. 8 January 2019. DOI 10.7788/akg.1970.52.2.297. [Accessed 25 January 2024].