Schicksal der Erde

Nur der Mensch, dem letzter Trost, letzte Zuflucht entzogen ward, dem nichts übrig bleibt als das nackte, hoffnungslose Lebensgefühl seines einmaligen und kurzen Jetzt und Hier und die Gewißheit, daß nach bloß-natürlichen Gesetzen Mücke und Ameise, Wassertropfen und Kiesel genau so nichtig, genau so wichtig sind wie sein eigenes, in Unendlichkeit verlorenes geschichtliches Dasein, nur der Mensch ohne Krücke und Brücke und ohne andern Sinn des Lebens als jenen, den er selber ins Leben hineinverwirklicht, kann das Schicksal der Erde in die Hand nehmen. Statt von blinder Naturordnung Wertverwirklichungen zu erwarten und Gerechtigkeit den Sternen abzufordern, beginnt er schmerzgeweckt und notgestachelt das sinnloschaotische Element unbeugsamer Zufallsgewalten im Sinn ideeller Wertnormen nach Kräften zu gestalten, sei es, daß er im Geiste von Hellas mitten ins Chaos die umhegten kleinen Gärten Epikurs einbaut, sei es, daß er im tieferen Geiste Indiens das Lebendige am Geiste sich vollenden, im Geiste sterben lehrt. Damit erst beginnt (in ganz neuem Sinn) das Leben Geschichte zu haben.

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LESSING, Theodor, 1919. Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München: C. H. Beck, S. 94.