Zeichenspiele

Die Vergangenheit hinterläßt Spuren. Altes wird geprüft, geändert, gestülpt, mit Gemach, Bedacht oder Fulguration. (Historisch ergibt sich wenig Neues. Die Literaturauswahl am Ende des Beitrags gibt zu karge Hinweise.) Mit Sprache Sprache dekonstruieren klingt paradox. Die Sprache, ökonomisch gebraucht, drängt zu Behauptungen und Verallgemeinerungen. Doch das Bewußtsein um Perspektivität macht kritisch. Aussagen werden relativiert. Aus einem Zirkel eine Spirale konstruieren. Dynamisieren.

Zeichenspiele – Z/6831

Die Sprachwissenschaft/Linguistik lehrt Überkommenes. Sie geht von der Sprachstruktur als Vorgegebenem zum Sprachgebrauch als ephemerem Phäno­men. Und doch kann die Struktur nur aus dem Gebrauch entwickelt werden. Das Gegebene wird durch Gebrauch. "Sprachgebrauch" spiegelt vor, Sprache gebe es als fertiges Werkzeug vor dem Gebrauch. Der Löffelschnitzer macht den Löffel. - Sprache wird als offenes System aus Elementen, nicht definierten/definierbaren Wörtern, Phrasen usw. beschrieben. "Offenheit" heißt Bewegung, Wandel an Zahl und Funktion indefinit-finiter 'Etwas' (Entitäten). (Ich verwende "indefinit" im Sinne von "nicht begrenzt" und für älteres unbegrenzt, infinit, ewig usw. "Infinit" hat seine Berechtigung in der Mathematik.) Kein (Mittel)-Punkt macht das Universum erfaßbar. In ihm entstehen und vergehen indefinit viele Welten. Jeder Punkt wird Mittelpunkt und ist es nie. Bewegung bedeutet: Statik auf den Punkt bringen.

Letztlich machen wir Annahmen über allemal individuelle, z.B. neurophysische, Strukturen als Teile eines ganzheitlichen (holistischen) Körpers, die von der Wahrnehmung anderer Objekte stimuliert werden. Wir anerkennen qualitative Sprünge und nennen das Resultat unserer angenommenen Erkenntnis ein "Phänomen". Womit wir erkennen und benennen, nennen die Linguisten "Zeichen". (Es gibt Abweichler.) Letztlich sind Engramme in einem lebenden, d.h. sich stetig wandelnden, neurophysischen Apparat gemeint. Zeichen gehören zum "Mesokosmos" der Evolutionären Erkenntnistheorie. Die Wissenschaften, selbst jene, die ausziehen, den Makro- und Mikrokosmos zu entschleiern, bleiben im Mesokosmos und seinen Erkenntnis-, Ausdrucks- und Beschrei­bungsmöglichkeiten befangen. Dadurch wird jede Wissenschaft letztlich unzu­treffend, Mythos. Auch die Sprachwissenschaften bilden Mythen.

Ferdinand de Saussure behauptete, Zeichen beständen aus einem "signifiant" und einem "signifié". Die Form KIRSCHE bildet ein signifiant, dem ein signifié "Kirsche" zugeordnet wird.

Das signifiant besteht aus einer 'Gedankenform', einer Lautform aus Schall­wellen oder einer Schriftform, z.B. Buchstaben. Traditionell wird die Schrift als sekundäre Darstellung von Lauten behauptet. (Die ecriture macht eine Ausnah­me durch Umdeutung der "ecriture".) Gedanken können in Schallwellen, beide, vereinfacht gesagt, in Buchstaben transformiert werden. Perzeptionen zwingen zu agieren, Schallwellen z.B. den Angesprochenen, den sie treffen. Auch der Sprecher wird betroffen, von seinen Gedanken nur er. Schrift kann unbeachtet verstauben. Wer wertet vision und audition um?

Die Bildung neurophysischer Strukturen ist einmalig, unwiederholbar (somit auch Gedanken und Schallwellen; gebrauchte Tinte wird nicht eingesammelt; versuchen Sie einmal, Ihr gestriges Gefühl beim Anblick einer bestimmten "passante" oder bei der Lektüre des Baudelaire-Gedichts aufzurufen). Zeichenformen sind substituierbar. Mündlich Mitgeteiltes kann schriftlich niedergelegt oder elektronisch aufgezeichnet werden. Das gibt ihm eine andere Existenz, ist weder Wiederholung noch Iteration. Wenn jemand ein Wort 'wiederholt', entsteht ein anderes Wort. Jede Aktivierung geschieht unter veränderten Bedingungen, wird Anderes in Form und Funktion (vgl. die Textemtheorie). Vorkommen bedeutet Prozeß-(zu-einem-Skopos-) für-jemanden-in-(s)einer-Umwelt- innerhalb-einer-individuell-momentan-gegebenen-Toleranz. Das Problem sind die Grenzwerte. Die Grenze zwischen einer Entität und ihrer Umwelt ist gegenseitig indefinit. Der Mensch hört nicht an seiner Fingerspitze auf. Laut Mikrophysik interagiert alles mit allem. (Die Einheit liegt vorerst auf der Ebene des Universums.)

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VERMEER, Hans J., 2004. Zeichenspiele. In: Ina MÜLLER und Heidemarie SALEVSKY (Hrsg.), Und sie bewegt sich doch: Translationswissenschaft in Ost und West ; Festschrift für Heidemarie Salevsky zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main Berlin Bern Wien: Lang. ISBN 978-3-631-52497-8