Abstraktion und Isolation

Der wichtigste kausale Faktor für den Holocaust, so hatte ich [Bammé] Zygmunt Bauman zitiert, seien die spezifisch modernen, technisch-bürokratischen Handlungsmuster und die sie bedingende Mentalität (a.a.O., S. 110). Das Wesen der Bürokratie, das, was ihre Stärke und Durchschlagskraft ausmacht, besteht für Bauman darin, dass ihre Instrumente rein zweckrationalen Kriterien unterworfen und die Ziele jeder moralischen Beurteilung entzogen sind. Hierin sei zugleich die eigentliche Erklärung zu finden für die mobilisierende und koordinierende Kraft und das rationale Handlungsvermögen unserer modernen Zivilisation. »Die Trennung von Zweck und Moral ist die Folge zweier paralleler Prozesse von zentraler Bedeutung für den bürokratischen Handlungsablauf: zum einen die akribisch funktionale Arbeitsteilung (...); zum anderen die Substitution moralischer durch technisch-formale Verantwortung« (a.a.O., S. 113).

Distanz erzeugen

Jede Form der Arbeitsteilung erzeugt eine Distanz zwischen denen, die kollektiv handelnd zu einem bestimmten Resultat beitragen, und dem Resultat selbst. »Diese praktische und geistige Distanz der Handelnden vom Resultat bedeutet, dass ein Funktionsträger innerhalb der bürokratischen Hierarchie Befehle erteilen kann, ohne sich in vollem Umfang über deren Auswirkungen im Klaren sein zu müssen oder sie plastisch vor Augen zu haben. Das Bewußtsein von den praktischen Auswirkungen ist allenfalls abstrakt-unscharf vorhanden - so wie es sich in Statistiken niederschlägt, die ja auch das Ergebnis messen, ohne dass Werturteile, insbesondere nicht moralische, in sie einflössen. Zwischen den Aktendeckeln und in den Köpfen der Bürokraten sind diese Ergebnisse auf mathematische Kurven und Kuchendiagramme oder endlose Zahlenkolonnen reduziert. In dieser merkwürdig inhaltsleeren Repräsentationsform geht es nur um quantitative Veränderungen - die Art der Maßnahmen oder die Auswirkungen auf die Zielgruppen bleiben ausgeblendet. Durch die statistische Aufbereitung werden Aufgaben unterschiedlichsten Charakters miteinander vergleichbar und austauschbar. Wenn nur noch der meßbare Erfolg zählt, ist eine Aufgabe wie die anderen« (a.a.O., S. 114).

Dieser aus jeglicher Form von Arbeitsteilung rührende distanzierende Effekt nimmt zu, wenn die Arbeitsteilung durch Auflösung persönlicher Abhängigkeiten funktionalisiert wird. Im Gegensatz zu tradierten hierarchisch-linearen Subordinationsketten stellt ihr funktionales Äquivalent einen weiteren Abstraktionsschritt in der historischen Entwicklung von Befehlsstrukturen dar, weg von persönlichen, hin zu sachlichen Abhängigkeitsverhältnissen.

Funktionalisierung erzeugt Distanz in zweierlei Hinsicht. Nicht nur die individuelle Betroffenheit, sondern auch der inhaltliche Bezug zum angestrebten Ergebnis der Handlungsvollzüge geraten aus dem Blick. »Die Distanz des Handelnden vom Resultat der Aktivitäten des Apparates, dem er angehört, wird (...) größer, denn es fehlt nicht mehr nur am direkten persönlichen Bezug zum Resultat, das mittels der hierarchischen Befehlskette angeordnet wurde, auch die jeweilige Spezialaufgabe weist keine erkennbare Analogie zur Mission des Apparates auf« (ebd.). Weder ist sie eine Miniaturausgabe noch eine Ikone des Gesamtsystems.

Die psychologischen Auswirkungen dieser Distanzierung sind schwerwiegend und folgenreich. »In der funktionalen Arbeitsteilung ist jede Handlung im Prinzip multifinal, das heißt, sie kann mit anderen vielfach kombiniert und integriert werden und so unterschiedlichen Zwecken dienen. Funktionalisierte Arbeitsteilung heißt, dass eine Handlung für sich keinen Sinngehalt hat; Bedeutung erlangt sie erst im Nachhinein, und zwar losgelöst vom Agieren der Funktionsträger. Es werden immer »die anderen« (fernab in irgendeiner Anonymität) sein, die irgendwann, irgendwo diese Sinngebung vollziehen« (a.a.O., S.114f.) [⇒ FlaschenpostZukünftiges Selbst]. Der aus der funktionalen Arbeitsteilung resultierende distanzierende Effekt erfährt heute durch die zunehmende Computerisierung der Arbeitsplätze eine weitere Verschärfung. Aus dem Tastendruck allein ist nicht mehr erkennbar, ob es sich zum Beispiel um ein Kriegs-Spiel oder um eine Ernst-Situation handelt.

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Bammé, Homo occidentalis, p. 437–438.